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Zu spät in den Blick genommen

12.07.2020 • 07:55 Uhr / 10 Minuten Lesezeit
Kinder- und Jugendanwalt Michael Rauch.                                                      <span class="copyright">Klaus Hartinger</span>
Kinder- und Jugendanwalt Michael Rauch. Klaus Hartinger

Kinder- und Jugendanwalt Michael Rauch über Kinder und Corona.

In letzter Zeit ist vermehrt von Studien zu lesen, in denen von traumatisierten Kindern aufgrund der Corona-Krise die Rede ist. Wie beurteilen Sie das?
Michael Rauch: Ich würde sehr dafür plädieren, nicht alle Kinder in den gleichen Topf zu werfen. Man muss schauen, von welchen Kindern, von welchen Jugendlichen, von welchen Familien man spricht. Und man muss auch schauen, zu welchem Zeitpunkt der Krise diese Studien entstanden sind. Es gibt eine Fülle an Studien, die sehr kurzfristig aus dem Boden gestampft wurden. Beide Aspekte müssen in einem Zusammenhang gesehen werden.

Es gibt aber Kinder, die Opfer sind?
Rauch: Absolut. Es gibt Kinder in Familien, in denen die Betreuung durch die Krise massiv erschwert wurde. Wir wissen noch sehr wenig darüber, wie es etwa Kindern in gewaltbelasteten Familien gegangen ist. Wir kennen zwar die Zahlen über den Anstieg der häuslichen Gewalt, wir haben Dunkelziffern, dass sich sexuelle Gewalt im Internet während des Lockdowns vervielfacht hat, aber wir wissen noch zu wenig über die konkrete Situation.

Wie können Sie das erfahren?
Rauch: Ich habe den Vorschlag gemacht – dem der Fachbeirat Kinderschutz auch gefolgt ist – im Herbst diese Studien zu sammeln, zu sichten und dann konkrete Maßnahmen daraus abzuleiten. Es gibt Bereiche, bei denen wir uns um die Kinder sorgen müssen. Das sind armutsgefährdete, bildungsbenachteiligte Kinder in engen Wohnverhältnissen. Aber wir haben natürlich auch Familien, die die Krise gut überstanden und bewältigt haben.

Die Kinder haben ihre Freunde vermisst.                                                                                          <span class="copyright">Shutterstock</span>
Die Kinder haben ihre Freunde vermisst. Shutterstock

Wie sind die Kinder selbst mit der Situation umgegangen?
Rauch: Wir haben Zahlen, die belegen, dass diese Situation sehr viel Angst ausgelöst hat, gerade auch bei Kindern. Bei „Rat auf Draht“, der bekanntesten Krisentelefonnummer für Kinder und Jugendliche, gibt es bei Angstthemen einen Zuwachs von über 200 Prozent. Was sehr viele Kinder betroffen hat, ist, dass sie plötzlich von ihren Freunden, von Gleichaltrigen abgeschnitten waren. Die haben ihre Freunde definitiv vermisst. Es ist eine zentrale Erkenntnis, dass man soziale Kontakte nicht nur online pflegen kann, man muss sich begegnen und viele Kinder sind so freudig wie noch nie wieder in die Schule gegangen.

Weiß man schon was über Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern aufgrund der Krise?
Rauch: Wir haben zunehmende Anfragen bei diesbezüglichen sozialen Beratungsstellen, aber diese Angstthemen sind nicht so sichtbar. Arbeitslosigkeit oder den Einbruch der Wirtschaftsdaten kann ich im Gegensatz dazu sehr gut messen. Insgesamt sind wir aber noch an einem Punkt, an dem eine Gesamtbewertung zu früh ist. Das ist gleichzeitig auch der Appell zu schauen, dass wir die sozialen Sicherungssysteme jetzt gut am Laufen halten. Wenn die Kinder im Herbst wieder zurück in die Schule, den Kindergarten kommen, müssen diese sozialen Regelsysteme gut eingebunden werden. Dort fällt es am ehesten auf, wenn etwas nicht stimmt. Das hat uns in der Krise definitiv gefehlt.

Zuletzt war etwa in Oberösterreich die erste Reaktion auf steigende Covid19-Fälle eine Schließung von Schulen, Kindergärten oder sogar Spielplätzen. Ist das sinnvoll?
Rauch: Wir haben auch als Kinder- und Jugendanwaltschaft sehr deutlich bei der Landesregierung deponiert: Kinder dürfen nicht die ersten sein, wenn man zumacht und nicht die Letzten, wenn man wieder aufmacht. Die jetzigen Schließungen in Oberösterreich sehe ich sehr kritisch, weil da wieder die ganze Belastung auf die Familien zurückfällt und die Kinder wieder aus ihrem außerfamiliären sozialen Umfeld ausgeschlossen sind. Und was wir noch festgestellt haben: Für viele Bereiche gibt es bereits Regelungen, aber die letzten waren die Jugend- und Freizeitorganisationen. Viele Ferien- und Sommerlager finden deshalb nicht statt, weil wir es nicht geschafft haben, Regelungen zu definieren.

Michael Rauch

Geboren 1961, aufgewachsen mit fünf Geschwistern in Rankweil. Matura am BG Feldkirch, Studium Sozialarbeit in Bregenz und Personal- und Organisationsentwicklung an der Universität Innsbruck. Zwei erwachsene Kinder.

Kinder- und Jugendanwalt seit 2002, davor Familienberatung im Vorarlberger Kinderdorf. Vorstandsmitglied der offenen Jugendarbeit Rankweil und in der Mitgliedervertretung der Agrargemeinschaft Rankweil.

Sind Kinder in dieser Krise vergessen worden?
Rauch: Sie sind zu spät in den Blick genommen worden. Ich habe die Landesregierung bis hin zum Landeshauptmann immer wieder sehr intensiv daran erinnert, dass wir die Kinder mitnehmen und für sie so viel Normalität wie möglich schaffen müssen. Mir ist aber bewusst, dass die Fülle an Aufgaben für die Politik wahrscheinlich noch nie so groß war wie in den letzten Monaten. Es gibt ein gewisses Verständnis, aber wir können das besser machen.

Wie?
Rauch: Ehrenamtlich tätige Jugendorganisationen zum Beispiel brauchen die Unterstützung von Behörden, um Schutzkonzepte auszuarbeiten. Wir brauchen bessere Entscheidungsgrundlagen, zu welchem Zeitpunkt Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen geschlossen werden und: Wir müssen Familien und Kinder direkt mit Geld- und Sachleistungen besser unterstützen. Die ganzen Pakete, die jetzt geschnürt werden, kommen natürlich indirekt auch Familien zugute, aber wir brauchen zudem direkte Leistungen. Sehr positiv beurteile ich etwa die Übernahme von Elternbeiträgen für die Kinderbetreuung im Sommer. Solche Dinge muss die Politik auch mitdenken.

Gibt es bei Kindern „Corona-Schäden“ und wie äußern sich die?
Rauch: Was die Krankheit selbst betrifft, wissen wir, dass Kinder relativ selten erkranken, aber wie groß die psychische Belastung ist, ist ganz stark davon abhängig, in welches soziale Umfeld das Kind eingebettet ist. In funktionierenden Familien haben die Eltern die Kinder gut unterstützt und trotzdem bleibt das Faktum: Kleinere Kinder haben ihre Spielkameraden vermisst, die sozialen Kontakte waren eingeschränkt. Und für Jugendliche in der beginnenden Pubertät ist es nicht oberstes Ziel, möglichst viel Zeit mit den Eltern zu verbringen, sondern sich nach außen zu begeben – das war alles massiv eingeschränkt und wie sich das bei manchen auswirkt, wissen wir noch nicht.

Lässt sich abschätzen, wie viele Kinder und Jugendliche in dieser Zeit besonders schwer getroffen wurden?
Rauch: Das kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantwortet werden – daher auch meine Anregung für die Untersuchung im Herbst. Wir müssen zudem auch ein besseres Screening im Schulbereich haben. Zu erheben, wie groß genau die Lücken und Defizite sind, wird im Herbst die große Aufgabe sein.

Das heißt, die Corona-Thematik wird auch für die Kinder- und Jugendanwaltschaft in den nächsten Monaten ein zentrales Thema?
Rauch: Das wird ein großes Thema im Fachbeirat Kinderschutz sein, im Zusammenhang mit Schulen und natürlich auch budgetär. Wir lobbyieren ganz stark dafür, Kinderschutzprogramme, Programme für benachteiligte Kinder von Sparmaßnahmen auszunehmen und auch die psychosozialen Themen voranzutreiben, wo diese Kinder auch entsprechende Unterstützung bekommen.

Wie erfolgreich werden Sie im zu erwartenden Verteilungskampf um weniger werdende Gelder sein?
Rauch: Die Krise kostet und die Krisengelder, die jetzt investiert werden, werden auch in Familien investiert. Das darf man nicht vergessen. Wir werden diese Krisenfolgen auch im Budget merken. Die Frage ist nur, wann? Ich glaube nicht, dass man Investitionsprogramme, die man jetzt allerorten startet, gleichzeitig schon mit Sparprogrammen kombinieren kann. Ich plädiere dafür und das habe ich auch deutlich kundgetan, das nächste Landesbudget als Investitionsbudget speziell auch für Kinder, Jugendliche und Familien anzulegen und da den Sparstift nur sehr vorsichtig, am liebsten gar nicht anzusetzen.

Wobei die öffentlichen Einrichtungen ja jetzt schon angehalten sind, nach Einsparungen zu suchen?
Rauch: Natürlich, ich kenne diese Vorgaben, aber die Entscheidungen werden im Herbst getroffen. Das sind politische Entscheidungen, die nicht einfach sind, weil die Summen, die bewegt werden, enorm sind. Aber wir müssen diesen Lockdown nicht nur in der Wirtschaft mit Investitionen überwinden. Wir müssen parallel dazu Familien, Kindern, Jugendlichen die Möglichkeit geben, wieder in die Normalität zurückzufinden und einen Teil der Kinder und Jugendlichen besonders unterstützen, um diese Krisenerfahrungen auch aufzuarbeiten.

Was brauchen Kinder nach bzw. in dieser Krise?
Rauch: Was Kinder jetzt dringend brauchen, und das hat am Freitag mit dem Schulschluss begonnen, sind Pausen. Sie brauchen Eltern, die Zeit haben, die Sicherheit vermitteln, die nicht mit ihnen ans Meer oder sonst wo hinfahren müssen. Die Kinder müssen jetzt wirklich zur Ruhe kommen können, ihre Freunde treffen, ein Stückweit das erleben, was Normalität ist. Es sind nicht besonders komplizierte Dinge, die Kinder jetzt brauchen: Zeit, Zuwendung und Beziehung.