“Kriasi”-Zeit im Bergdorf Fraxern

25 bis 30 Tonnen Kirschen werden in Familienarbeit geerntet und verlesen.
Die Sonne brennt vom Himmel über Fraxern, nur ein leiser Windhauch weht durch die Blätter, und aus den Baumkronen überall im Dorf ist ein stetiges Rascheln zu vernehmen. Doch derzeit sind es nicht die Vögel, die sich dort eingenistet haben, sondern die Fraxner. Wagemutig klettern sie Sprosse um Sprosse auf alten Holzleitern empor, einen Korb um den Bauch geschnallt, um ihn mit reifen Kirschen zu füllen. Es ist wieder Kriasi-Zeit in Fraxern, und das Dorf ist auf den Bäumen.
25 bis 30 Tonnen
Einer von denen, bei dem sich derzeit alles um die aromatischen Früchte dreht, ist Bertram Nachbaur. Der Chef des Peter-Hofs und Obmann des Fraxner Obst- und Gartenbauvereins kümmert sich wie jedes Jahr persönlich um die Ernte, seit Dienstag der vergangenen Woche ist es soweit. Weiter unten im Dorf, beispielsweise am Hof der Familie Mittelberger, hat die Kirschernte schon eine Woche eher begonnen – der Höhenunterschied von fast 200 Metern macht sich bemerkbar. „Für uns hier oben ist die Ernte heuer sehr gut, in tieferen Lagen gab es im Frühling allerdings Frost, da gibt es weniger Früchte“, erklärt Nachbaur. Rund 25 bis 30 Tonnen Ernte erwartet er für die diesjährige Saison insgesamt im Dorf. Geerntet wird im oberen Dorf vermutlich bis Ende Juli, im unteren Bereich ist man schon so gut wie fertig.

Nur Holzleitern
Für Bertram Nachbaur beginnt ein typischer Tag in der Kriasi-Zeit um acht Uhr morgens „am Platz“ – also dort, wo an diesem Tag die Kirschen geerntet werden. Um überhaupt an die begehrten Kriasi, wie sie im Dialekt genannt werden, zu kommen, braucht man natürlich eine Leiter. Denn die „Große Schwarze“, die typische Fraxner Kirsche, wächst am Hochstamm, also gerne auch zehn Meter über dem Boden. Doch Leiter ist nicht gleich Leiter: In Fraxern werden fast ausschließlich Holzleitern verwendet. Bis zu 38 Sprossen haben sie, damit auch wirklich alle Kirschen ihren Weg in die „Krata“, den um den Bauch gebundenen Korb finden. „Und wenn die Leiter dann doch zu kurz ist, dann ist der Baum zu groß“, schmunzelt Nachbaur.

„Für uns hier oben ist die Ernte heuer sehr gut, in tieferen Lagen gab es im Frühling allerdings Frost, da gibt es weniger Früchte“
Bertram Nachbaur, Peter-Hof
Nur eine kurze Mittagspause
Bis auf eine kurze Mittagspause verbringt Nachbaur dann den ganzen Tag in den Kirschbäumen, doch langweilig wird ihm dabei nicht: „Es helfen eigentlich nur Familienangehörige mit, da gibt es immer etwas zu erzählen und es ist für gute Unterhaltung im und unter dem Baum gesorgt.“ Unter der Woche helfen seine Frau Christine Nachbaur und der Schwiegervater und Senior-Chef Michael Peter bei der Ernte, zu dritt schaffen sie im Schnitt zwei Bäume pro Tag. 120 Kilogramm Kriasi sind das ungefähr, von denen schätzungsweise 70 „1-A-Qualität“ haben, wie Bertram Nachbaur stolz erklärt.

Hoch oben im Kirschbaum
Die hölzerne Leiter, auf der Nachbaur an diesem Tag hoch in den Kirschbaum steigt, scheint fast senkrecht gen Himmel zu ragen. Ungefähr in der Mitte wird sie von zwei schrägen Stützen stabilisiert, am oberen Ende ist sie an einem Ast festgebunden. Steht man dann ganz oben und lugt zwischen Kirschen und Laub hinab ins Rheintal, ist auch das Wackeln und Biegen der Leiter schnell wieder vergessen. Eugen Kathan, der Nachbaur schon seit vielen Jahren beim „Kriasi-Gwinna“, wie es die Fraxner nennen, hilft, weiß, wie man sich die Zeit im Baum versüßen kann: Immer wieder wandert eine Kirsche in den Mund, denn „am besten schmecken sie direkt vom Baum!“ Ein Kirschkernweitspucken gibt es allerdings nicht: Die Fraxner essen den Kern nämlich gleich mit. „Das lernen schon die kleinen Kinder bei uns“, bestätigt Nachbaur. Neben der „Krata“ ist ein metallener Haken das wichtigste Werkzeug für die Kirschernte. Damit werden die Äste herangezogen. Außerdem haben Nachbaur und Kathan einen weiteren Tipp: Feste Schuhe. „Am anstrengendsten ist das Ganze eigentlich für die Füße“, sagt Nachbaur, denn die schmalen Sprossen sind nur für kurze Zeit angenehm zum Stehen. Kathan steht darum mit „Hölzlern“ auf der Leiter.

Kirschen werden handverlesen
Auf die vollen Kirschkörbe wartet am Hof ein weiterer Helfertrupp: Alle Kirschen werden nun von Hand verlesen. Christine Nachbaur erklärt auf was zu achten ist: „Die Kriasi müssen schön aussehen und einen Stil haben, dürfen nicht angestochen, faul oder klein sein und keine Verwachsungen haben.“ Was nicht oberste Qualität hat, findet aber dennoch seinen Weg zum Kunden: Auch am Peter-Hof wird aus den Kirschen das bekannte Fraxner Kriasiwasser gebrannt, außerdem werden Saft, Essig, Marmeladen oder Dörrkirschen hergestellt. Verkauft wird hier direkt ab Hof, andere Anbieter wie zum Beispiel Familie Mittelberger belieferen auch die Märkte von Sutterlüty. Heuer gibt es auf der Homepage der Gemeinde Fraxern erstmals eine Auflistung aller Höfe, die ihre Kriasi verkaufen.

Lange Tradition
Doch wie wurde Fraxern eigentlich zum landesweit bekannten Kriasi-Dorf? Wie genau die Kirschen nach Fraxern kamen, lässt sich nicht mehr nachvollziehen, doch bereits im Jahr 1574 focht Fraxern einen Streit mit der Gemeinde Weiler um das Recht auf die begehrten „Khriespern“ aus. Bekannt seien die Fraxner Kriasi dann vor allem auf Grund ihrer Qualität geworden, erzählt Bertram Nachbaur. Alte Sorten wie die „Große Schwarze“ sind zudem sehr robust. Die „echten Fraxner Kriasi“ sind jedoch die „Klennzweiate“, die jedoch sehr klein und darum als Tafelkirsche heute nicht mehr gefragt sind. Insgesamt werden mittlerweile rund 15 verschiedene Kirschsorten auf rund 2200 Bäumen in Fraxern angebaut.
Kirschenanbau in Vorralberg
In Vorarlberg befassen sich 17 Profi-Obstbauern mit dem Anbau von Tafelkirschen. Sie teilen sich eine Anbaufläche von etwa 3,5 Hektar und ühren daher eher ein Nischendasein. Daneben gibt es etliche Hochstammkirschen, die in guten Jahren ebenfalls Tafelobstqualität liefern. Schwerpunkt des Hochstammanbaus ist das Kirschendorf Fraxern. Kirschenplantagen gibt es verstreut im Rheintal und Walgau.
Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Kriasi-Ernte für viele Familien ein wichtiges wirtschaftliches Standbein. Die Großeltern hätten die Kriasi noch von Klaus aus mit dem Handkarren in die Gemeinden des Landes transportiert, manche seien sogar bis Bregenz zu Fuß gegangen, erzählt Nachbaur. „Jede Familie hatte sozusagen ihre eigene Gemeinde, in der sie verkauft hat.“

Nur mehr ein Nebenerwerb
Mittlerweile jedoch ist das „Kriasi-Gwinna“ für die Kirschbauern des Dorfs nur noch ein Nebenerwerb. Bertram Nachbaur ist trotzdem guter Dinge, dass einer seiner Söhne den Kriasi-Anbau weiterführen wird. Schon von klein auf waren sie bei der Ernte mit dabei und obwohl sie an so manchen Tagen nur Löcher in die Luft starrten, anstatt ihre „Krata“ zu füllen, sind sie heute mit Elan dabei. Das ist jedoch nicht überall so, weshalb Bertram Nachbaur nicht glaubt, dass der Kriasi-Anbau in Fraxern unverändert bestehen bleiben wird. Er denkt derzeit über eine Intensivanlage nach, in der keine Hochstämme, sondern kleinere Bäume wachsen würden. „Die Bewirtschaftung der Hochstämme wird immer schwieriger, der Regen und die Kirschessigfliegen machen die Arbeit beschwerlich.“ Im konzentrierten Anbau könnte man die Bäume besser schützen und abdecken – das ist bei den Hochstämmen undenkbar. Weiter bestehen sollen diese laut Nachbaur aber trotzdem. Kritik nimmt er vorweg: „Wenn man die Kriasi in Fraxern erhalten will, dann muss man auch Veränderung in Kauf nehmen.“
Julia Putzger