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Die Spanische Grippe in Vorarlberg

01.08.2020 • 19:33 Uhr / 7 Minuten Lesezeit
Bildmaterial zur Spanischen Grippe gibt es vor allem aus den USA,  im Bild St. Louis, Missouri im Oktober 1918.                       <span class="copyright">Reuters/Library of Congress</span>
Bildmaterial zur Spanischen Grippe gibt es vor allem aus den USA, im Bild St. Louis, Missouri im Oktober 1918. Reuters/Library of Congress

Historiker Wolfgang Weber über Pandemien einst und jetzt.

Vor gut einem Jahrhundert – von 1918 bis 1920 – hat die „Mutter aller Pandemien“, die Spanische Grippe, weltweit grassiert. Die Zahl der Opfer wird auf bis zu 100 Millionen geschätzt, jene der Infizierten auf 500 Millionen Menschen. Ihren eigentlichen Ursprung dürfte sie in den USA gehabt haben. Sicher weiß man das bis heute nicht.

„Es gibt keine Pandemiegeschichte Vorarlbergs“, stellt dazu der Historiker Wolfgang Weber fest. Daher hat er sich nun drangemacht, diesen Teil der Historie „evidenzbasiert“ zu betrachten. Auch unter dem Gesichtspunkt: Was nehmen wir aus dieser Geschichte von vor 100 Jahren für die heutige Zeit mit? Was haben wir in 100 Jahren in Hinblick auf Pandemiebekämpfung gelernt? Ein erster Überblick zeigt: Es ist nicht allzuviel.

Etwa 500 Grippetote

Insgesamt lassen sich im Umgang mit der Seuche damals und heute viele Gemeinsamkeiten erkennen, berichtet der Historiker. Einiges hat sich in den gut 100 Jahren aber auch geändert. In Vorarlberg dürften zwischen 1918 und 1920 rund 500 Menschen der Spanischen Gruppe, die in vier Wellen aufgetreten ist, zum Opfer gefallen sein, schätzt Weber.
Einen Unterschied zur Gegenwart erkennt der Historiker etwa darin, dass es vor hundert Jahren vor allem medizinsches Fachperonal war, das in der öffentlichen Kommunikation – die damals vor allem über Zeitungen lief – tonangebend waren. Und nicht die Politiker, wie es heute der Fall ist.

Historiker Wolfgang Weber.                                       <span class="copyright">Dietmar Stiplovsek</span>
Historiker Wolfgang Weber. Dietmar Stiplovsek

Ein weiterer bemerkenswerter Unterschied besteht darin, dass damals Zwangsmaßnahmen, die die bürgerlichen und politischen Grundrechte einschränken, vor allem lokal und regional umgesetzt wurden. Das ist insofern erstaunlich, als zu Beginn der Pandemie mit der Monarchie eine autoritäre Staatsform herrschte, die aber dem lokalen Krisenmanagement durchaus Autonomie gewährte.
Die Schließung der Grenze zur Schweiz im August 1918 war zwar zentral angeordnet worden. Wenige Tage später wurde sie aber von einer lokalen Behörde wieder aufgehoben. Zugverbindungen und Grenzgängerverkehr blieben während der Sperre aufrecht. Eine Grenzschließung nach Deutschland und Liechtenstein gab es nicht. Die Schulschließungen im Herbst des Jahres erfolgten indes ausschließlich lokal und auf einzelne Gemeinden beschränkt. Ähnlich war es beim Versammlungsverbot.

Offene Grenzen

Keine Einschränkungen erlebte damals die durch den vorangegangenen Weltkrieg bereits am Boden liegende Wirtschaft. Sie war laut Weber vemutlich auch der Grund, dass die verhängte Grenzsperre bald einmal wieder aufgehoben wird. Dass offene Grenzen damals eine große Rolle bei der Übertragung des Virus spielen, lässt sich mit den Zahlen nicht belegen, so der Historiker. So gab es zwar im Grenzort Lustenau schon recht früh Grippekranke und auch Tote, in Höchst und Hohenems war das aber nicht der Fall.

Damals wie heute galt als wichtigste Maßnahme, Übertragungswege zu unterbrechen. Dafür wurden Kranke isoliert, Hygienemaßnahmen forciert und auch Gottesdienste ausgesetzt, wenn sich so wie im Oktober 1918 in Götzis rund um die Kirche ein Cluster bildete: Zwei Kaplane, der Mesner, mehrere Ministranten und Mitglieder des Kirchenchors waren erkrankt.

Meldung im deutschliberalen „Vorarlberger Volksfreund“ vom 3. Oktober 1918.
Meldung im deutschliberalen „Vorarlberger Volksfreund“ vom 3. Oktober 1918.

In der amtlichen Vorarlberger Landes-Zeitung war erstmals am 3. Juli 1918 von bis zu 100 an Grippe erkrankten Soldaten in der Lindauer Garnison berichtet worden. Soldaten, die von der Front oder aus der Gefangenschaft zurückkehrten, spielten laut Weber eine wichtige Rolle bei der Übertragung der Krankheit. Etwa zeitgleich wurden erste Erkrankungen unter der Zivilbevökerung in Dornbirn bekannt.

Hierzulande war man aber Zeitunsgberichten zufolge zunächst davon ausgegangen worden, dass die Krankheit relativ harmlos sei. Am 11. September 1958 starb dann mit der 58-jährigen Lustenauerin Leokadia Hämmerle die erste Zivilistin. In diesem Herbst begann auch die bis Jahresende dauernde zweite Welle, bei der regional und global die meisten Toten zu verzeichnen waren. Bei der ersten Welle im Sommer hatte es noch größtenteils milde Verläufe gegeben. Allein in Lustenau fielen im Oktober 1918 in drei Wochen 28 Menschen der Pandemie zum Opfer.

Grippekranke in einem Notfallspital 1918 in Kansas.                      <span class="copyright">AP /National Museum of Health</span>
Grippekranke in einem Notfallspital 1918 in Kansas. AP /National Museum of Health

Betroffen waren alle Bevölkerungsschichten, wobei sich die Krankheit ihre Opfer vor allem in der Altergruppe 20 bis 40 Jahre suchte. Es gab auch keine Unterschiede zwischen Stadt und Land. In Schoppernau wütete die Pandemie ebenso wie in Dornbirn. Grenzgänger waren nicht häufiger betroffen als Bauern. Riefensberg blieb etwa 1918 weitgehend verschont, bei der vierten Welle im Februar 1920 erkrankte nahezu das ganze Dorf, berichtet der Historiker.

Cluster gab es damals auch schon – etwa innerhalb eines Ortes oder auch innerhalb von Berufsgruppen. Bei der dritten Welle 1919 erkrankten etwa 30 Prozent der Angestellten der ÖBB-Werkstätte in Feldkirch. Auch in Schulen entstanden Cluster.

Prominente Kranke und Tote

Auch Prominente blieben von der Grippe nicht verschont. So starben unter anderem der technische Leiter der ersten Vorarlberger Strohutfabrik in Egg, Ernst Karg oder der Bregenzer Gymnasialdirektor Ernst Kiechl. Der Bregenzer Bürgermeister und Landtagsabgeordnete Ferdinand Kinz erkrankte an der Grippe, wurde aber wieder gesund.
Ab April 1920 war der Spuk dann auch in Vorarlberg langsam vorbei. Nachdem es damals weder Medikamente noch Impfungen gegen die Grippe gab, wird vermutet, dass die Durchseuchungsrate hoch genug gewesen sein muss, um die Pandemie weltweit zu beenden.

Schlussfolgerungen

Eine Schlussfolgerung aus dem Vergleich ist für den Historiker, dass die gegenwärtigen Politiker keine historischen Superlative verwenden sollten, weil sie schlicht nicht der Realität entsprechen. „Geschichte wird hier als Waffe gebraucht“, so Weber. Erstaunlich sei zudem, dass auch in virulenten Zeiten – 1918 bis 1920 gab es den mit viel Unsicherheit behafteten Übergang von der Monarchie in die Demokratie – die Menschen fähig waren, ihre Probleme regional und lokal demokratisch zu lösen, wenn man ihnen das nur zutraue, stellt der Historiker fest.

Zudem seien in dieser Zeit Grundrechte nicht nur kaum eingeschränkt, sondern ausgebaut worden. Als Beispiel nennt Weber hier das Frauenwahlrecht. Und das wurde auch nicht angetastet. So gab es 1919 in Vorarlberg gleich drei Wahlen und eine Volksabstimmung. An eine Absage oder Verschiebung dachte damals trotz Pandemie niemand.