Problemzone Essen

Corona fördert das Auftreten von Essstörungen.
Es ist eine schwierige Zeit, in der die Menschen verstärkt mit ihren Dämonen zu kämpfen haben. Auch Essstörungen nehmen zu. Besonders unter Jugendlichen. „Die Pubertät ist an sich eine kritische Zeit, die durch die derzeitige Situation verschärft wird. Positive Erlebnisse fehlen. Das Ablösen vom Elternhaus ist erschwert. Es wird versucht, auftretende Krisen und Konflikte durch Essen oder Nicht-Essen zu bewältigen“, erläutert Christine Fäßler, Sozialarbeiterin und Suchtberaterin bei der Caritas. „Das Essverhalten kann kontrolliert werden, wenn schon sonst nichts.“ Sie erhält derzeit mehr Anfragen, insbesondere von Jugendlichen um die 15, 16 Jahre, sowie von besorgten Angehörigen. Dabei treten alle Formen von Essstörungen auf. Die bekanntesten sind Magersucht, Bulimie (bewusstes Erbrechen und Essanfälle) sowie Binge Eating (Essattacken).
Tödlich
„Das Problematische an Essstörungen ist, dass es sich um schwere psychosomatische Erkrankungen handelt, die rasch chronisch werden. Wenn sie sich etabliert haben, benötigen sie lange intensive Behandlung“, erklärt der deutsche Experte Günter Reich. „Die Magersucht ist die tödlichste Erkrankung, die jemand in der Jugend überhaupt entwickeln kann“, warnt er. „Die Kerngruppe der Magersüchtigen hat ein Gefühl von Ineffektivität und Machtlosigkeit. Und das machen sie am Körper, der sich durch die Pubertät verändert, fest. Sie merken, dass sie ihn durch Hungern beeinflussen können und darüber gewinnen sie ein Gefühl von Macht. Gleichzeitig können sie sich von anderen, zum Beispiel der Familie, abgrenzen“, erläutert er.

Veränderungen
Magersucht hat bleibende Veränderungen des Stoffwechsels, des Hormonhaushaltes und des Gehirnvolumens zur Folge. Die Patienten werden insgesamt stimmungslabiler. Bei Bulimie und beim Binge Eating sind es Veränderungen im körpereigenen Belohnungssystem. Hochkalorische Nahrung wird zur Kompensation eingesetzt. Alle Essstörungen erhöhen das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Beim Übergewicht, (Binge Eating) sind es zusätzlich Diabetes, Gelenksprobleme und dergleichen. Alle Formen gehen mit Störungen von Körperwahrnehmung und -bezug einher und sind in der Regel mit anderen psychischen Störungen wie Depressionen oder Angststörungen verbunden. Risikofaktoren, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, an Essstörungen zu erkranken, sind eine hohe Leistungsorientierung, niedriger Selbstwert oder schwierige familiäre Situationen. Natürlich auch körperlicher oder psychischer Missbrauch. Jugendliche aus Familien, in denen Essen und das äußere Erscheinungsbild eine hohe Aufmerksamkeit erfahren – egal, ob übermäßig gegessen wird oder die Betonung auf kontrolliertem Essen liegt – erkranken ebenfalls häufiger.

Für Frauen und Mädchen sind Ernährung und Essen grundsätzlich ein großes Thema. Doch wann wird es problematisch? „Die Übergänge sind fließend, die Grauzone ist groß. Essstörungen sind die Spitze des Eisbergs. Sie satteln sich auf einen gesellschaftlichen Trend drauf“, erläutert Psychologe Reich. „Einstiegsdroge“ seien häufig Diäten, durch die das natürliche Essverhalten zerstört wird. Die Gesellschaft tut das ihre, der Trend zum dünnen Körper hält trotz Gegenbewegungen an. Es geht dabei nicht rein um Attraktivität. „Wer sich beim Essen kontrolliert, gilt als diszipliniert, verantwortungsvoll, leistungsfähig. Der korpulente Körper hingegen gilt nicht nur als unattraktiv, sondern ist ein Zeichen für Undiszipliniertheit, mangelnde Leistungsfähigkeit, etc. Das eine wird als moralisch gut bewertet, das andere als schlecht“, erläutert Reich. Diese Problematik wird über die sozialen Medien und fragwürdige Trends wie „Thigh Gap“ (möglichst große Spalte zwischen den Oberschenkeln), verschlimmert, erzählt Katharina Kohler, Leiterin des „Mädchen*treffs“ der Offenen Jugendarbeit Dornbirn. Sie stellt fest, dass Ernährung und Körperbilder für alle, die zu ihnen kommen, ein großes Thema sind. Deshalb werden sie immer wieder bewusst thematisiert. Soziologin Fäßler sieht bei ihren Klienten häufig, dass sie Apps wie Kalorienzähler und Schrittmesser verwenden.
Was tun, wenn vermutet wird, dass Tochter oder Sohn an Essstörungen leiden? „Ansprechen“, betont Fäßler. „Viele haben Angst, dass sie es verschlimmern könnten, aber es ist wichtig, in Ich-Botschaften und in vertrauensvollem Rahmen auszudrücken, dass man sich Sorgen macht.“ Die Betroffenen würden mit hoher Wahrscheinlichkeit zunächst abblocken. „Es ist aber essenziell, fachliche Beratung und Unterstützung einzuholen.“
KOntakt
Caritas Suchtfachstellen
• Region Oberland:
Reichsstraße 173, Feldkirch,
Tel. 05522/200-1700
• Region Unterland:
Bahnhofstraße 9, Dornbirn
Tel. 05522/200-4050
essstoerungen@caritas.at
Es herrscht Schweigepflicht.

Für das geliebt werden, was man ist
Steffi (29) aus Dornbirn leidet unter Essstörungen. Wenn es ihr schlecht geht, hört sie auf, Nahrung zu sich zu nehmen.
Das Thema Essen beschäftigt beschäftigt Steffi (29) aus Dornbirn, seit sie vier Jahre alt war. „Meine Mutter war immer ein bisschen fester. Ich hatte Angst, dass ich einmal dick werde“, erzählt sie. Als Kind konnte sie ihr Essverhalten nicht regulieren, wohl aber, als sie älter wurde. Problematisch wurde es nach der Geburt ihres ersten Kindes. Damals war sie 16. „Ich war gern schwanger, weil ich das Gefühl hatte, dass ich essen und zunehmen durfte“, berichtet sie. Aber nach der Entbindung fiel sie in ein tiefes Loch. Sie hörte auf, Nahrung zu sich zu nehmen, trank nur noch Red Bull und rauchte. Irgendwann wog sie bei einer Größe von 165 Zentimetern nur noch 42 Kilogramm. Beim Ausgehen wurde sie darauf angesprochen, dass sie nicht mehr gesund aussah. Ihr war das egal. „Ich hätte noch weiter abgenommen“, erzählt sie. Mehrfach kippte sie um. Notgedrungen machte sie eine Therapie. „Im Nachhinein gesehen, war die Therapie beim Projekt ‚Gemeinsam Leben Lernen‘ die beste Entscheidung“, berichtet sie. Ein Jahr lang kam sie am Morgen und blieb bis 17 Uhr. Jeder Tag verlief gleich. Sie musste auch kochen und sich mit den Therapeuten und den anderen Gruppenmitgliedern an einen Tisch setzen und essen.
Kontrolle
Steffi gibt zu, dass sie viele Rückfälle erleidet. Wenn es ihr schlecht geht, verfällt sie ins gleiche Verhaltensmuster. „Weil ich das Essen unter Kontrolle habe, wenigstens etwas“, erklärt sie. Zuletzt passierte es zu Anfang der Corona-Krise. Heute ist sie sich bewusst, dass psychische Probleme die Ursache für ihr Verhalten sind und es nicht allein ums Essen geht. Sie wollte zwar immer dem Idealbild einer möglichst schlanken Frau entsprechen. Da ist aber auch eine tiefsitzende Unzufriedenheit mit sich selbst und ein Gefühl, nichts auf die Reihe zu bekommen.
Es fällt ihr nicht schwer, aufs Essen zu verzichten, denn sie hat kein Hungergefühl mehr. Für ihre Kinder – sie hat mittlerweile ein zweites – kocht sie auch. Mittlerweile weiß Steffi, wie weit sie gehen kann. Geheilt fühlt sie sich nicht. Ist sie gestresst, isst sie nicht.
Es hat lange gebraucht, bis sie sich selbst eingestehen konnte, dass sie ein Problem hat. Doch mittlerweile kennt sie ihre wunden Punkte: Selbstachtsamkeit, Akzeptanz. Sie ist eine Perfektionistin, möchte immer besser werden. Auch den Einfluss der Gesellschaft empfindet sie als schädlich. Sie beobachtet, wie Mädchen Bildern von Influencerinnen in den Sozialen Medien nacheifern. „Und viele Männer sehen Frauen immer noch als Vorzeigeobjekt“, glaubt sie. „Ich wünsche mir aber, für das geliebt zu werden, was ich bin.“ Angehörigen rät sie, das Gespräch zu suchen. „Wären meine Kinder betroffen, würde ich achtsam und respektvoll mit ihnen umgehen. Ihnen sagen, dass ich sie verstehe, auch wenn es unverständlich scheint. Denn es ist ein Lösungsversuch für ein Problem. Und dann muss man schauen, ob man es lösen kann.“