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Neuer “Winter der Unzufriedenheit”?

03.10.2021 • 18:42 Uhr / 4 Minuten Lesezeit
Premier Boris Johnson
Premier Boris Johnson AFP

So hatten sich die Briten das Leben nach dem Brexit nicht vorgestellt.

Boris Johnson hatte als Stratege auftreten und Optimismus ausstrahlen wollen auf dem Tory-Parteitag, der am Sonntag beginnt. Das kann er vergessen, denn die prekäre Lage in Großbritannien spitzt sich weiter zu. Weil an allen Ecken Lastwagenfahrer fehlen – der Branchenverband Road Haulage Association nennt als Zahl bis zu 100.000 – blieben in Supermärkten zuletzt wie berichtet die Lebensmittelregale leer, auch viele andere Waren gab es vorübergehend nicht, von Matratzen bis zu diversen Biersorten. Erst als die Energiekonzerne Dutzende Tankstellen nicht mehr beliefern konnte, wurde die Regierung aktiv. Ein gefundenes Fressen für jede Oppositionspartei, doch die britische Labour-Party, die noch bis Sonntag ihren Parteitag in Brighton abhält, ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt und hielt sich nicht lange mit Johnsons Missmanagement auf.

Leere Zapfsäulen, leere Regale

Energiekrise, keine Lkw-Fahrer, leere Zapfsäulen und geleerte Supermarkt-Regale: Die Briten spüren die Folgen des Brexit. Ein Grund für den eklatanten Engpass sind die schärferen Einwanderungsregeln, EU-Bürger benötigen nun teure Arbeitsvisa für die Insel.

Kolonnen vor den Tankstellen
Kolonnen vor den TankstellenAPA

Die britische Politologin Melanie Sully, die in Wien das Institut für Go-Governance leitet, nennt weitere Gründe für die Engpässe: “Covid hat natürlich auch eine Rolle gespielt: Die Arbeiter sind im Zuge der Pandemie zurück in ihre Heimat. Dazu kommt, dass Lkw-Fahrer in Großbritannien brutal niedrige Löhne bekommen. Auch die Arbeitsbedingungen in Großbritannien sind schlechter als in der EU.”

Winter der Unzufriedenheit

Selbst Tory-Mitglieder warnen ihre Minister bereits vor einem “winter of discontent”, einem Winter der Unzufriedenheit, wie er in Anlehnung an ein Shakespeare-Zitat genannt wurde, und wie es ihn Ende der 1970er-Jahre infolge einer schweren Wirtschaftskrise in England gab.

“Es wird sicher noch schlimmer, bevor es besser wird”, erklärt Sully. Sie erinnere sich noch gut an die schwierigen Jahre von 1970 bis 1979, an diese “prolongierte Krise”, als der Lebensstandard in Großbritannien erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg massiv sank und sie ihre Prüfungsaufsätze in der Kälte und bei Kerzenlicht korrigieren musste, weil der Strom jeden Tag ausging: “Das war wenig romantisch.”

Aber von so einer Situation sei man heute, so Sully, doch noch weit entfernt: “Damals herrschte in Großbritannien politische Instabilität und die Lage war weit chaotischer als heute.”

Genveränderte Pflanzen

Und noch eine Konsequenz hat der EU-Austritt für die Insel: Die britische Regierung wird, wie sie nun bekanntgab, die Regeln für den Anbau genetisch veränderter Pflanzen lockern, zunächst allerdings nur in England. „Das ist ein Werkzeug, das uns helfen könnte, einige der größten Herausforderungen zu bewältigen, denen wir gegenüber stehen – wie Ernährungssicherheit, Klimawandel und dem Verlust der ökologischen Vielfalt“, erklärte der britische Landwirtschaftsminister George Eustice. Kleinere Genveränderungen innerhalb einer Pflanzenart sollen erleichtert werden, während Genmanipulationen, die mehrere Arten involvieren, weiterhin reguliert bleiben sollen. Vorerst. In der EU gelten für beide Bereiche strikte Regeln.

Fischerei

“Jetzt droht auch noch ein neuer Fischereikrieg“, schreibt der britische „Telegraph“ über eine weitere Brexit-Konsequenz. Der Konflikt droht wieder zu eskalieren, weil die britische Regierung drei Viertel der Anträge kleiner französischer Boote auf Fischfang in britischen Gewässern abgelehnt hat. Frankreichs Europaminister drohte mit “Vergeltungsmaßnahmen”, während Fischereiführer den Schritt als “Kriegserklärung an Wasser und Land” bezeichneten. Nach den Spannungen über den neuen Verteidigungspakt zwischen Großbritannien, Australien und den USA hat die Beziehung zwischen Boris Johnson und Emmanuel Macron einen neuen Tiefpunkt erreicht.