Ein tönender Spiegel für unsere Zeit

Udo Mittelberger
Igor Levit war mit Ronald Stevensons „Passacaglia on DSCH“ zu hören.
Was für ein gewaltiges, die Welt und die Musikgeschichte umspannendes Werk, was für ein Pianist, der sich diesem mental wie psychisch und physisch fordernden Marathon ausliefert! Im Rahmen der Bregenzer Meisterkonzerte brachte Igor Levit am Samstag im Festspielhaus eines der ungewöhnlichsten Werke des 20. Jahrhunderts zur Aufführung, die „Passacaglia on DSCH“ des schottischen Pianisten und Komponisten Ronald Stevenson.
Stevenson und Levit
Da passen zwei zusammen: Der 2015 verstorbene Ronald Stevenson, der als Pianist über ein ungemein reiches Ausdrucks- und Klangfarbenspektrum verfügt haben muss, der als Lehrender international tätig war, der sich gesellschaftspolitisch und pazifistisch einsetzte und mit der „Passacaglia on DSCH“ sein Hauptwerk schuf. Und Igor Levit, der sich in seinem breiten Repertoire immer wieder mit den großen Zyklen auseinandersetzt: Bachs Goldberg- und Beethovens Diabelli-Variationen hat er auf einer CD-Box mit den Variationen von Frederic Rzewski „The people united will never be defeated“ eingespielt, auch das ein höchst politisches und pianistisch anspruchsvolles Werk. Beethovens 32 Sonaten musizierte er immer wieder als Zyklus. Dass er sich politisch engagiert und regelmäßig zu Wort meldet und die derzeitige Situation den in Deutschland ausgebildeten gebürtigen Russen umtreibt, ist auch kein Geheimnis.
Musik, die “passt”
Wenn Stevenson in seine musikalische Weltreise Kinderlieder, Wehklagen für die „kindlichen Opfer des Nationalsozialismus“ und für die Opfer der Apartheid in Südafrika einfließen lässt und der Flügel im kriegerischen Trommelfeuer erzittert, dann ist es für Igor Levit, als würde „man die heutige Zeitung aufschlagen“. Als dieses Konzert programmiert wurde, konnte man noch nichts ahnen von einem Krieg um die Ukraine, umso beklemmender ist es, wie die Musik in unsere Zeit „passt“ und wie der Pianist von ihr gepackt wird!
DSCH: Das sind die Initialen von Dmitri Schostakowitsch, die sich auch in den Tönen d-es-c-h widerspiegeln und die der russische Komponist selbst gern als markante tönende Signatur in wichtige Werke gesetzt hat. Dabei drückt Stevenson nicht nur seine Verehrung für Schostakowitsch aus, sondern meint auch dessen Kampf um künstlerische Aussage in Zeiten der Unterdrückung durch Stalin und der Vorschriften einer politischen Behörde, wie Musik in der Sowjetunion zu klingen habe.

Dieses Viertonmotiv bleibt als solches oder in der Umkehrung h-c-es-d bestehen, erklingt über 600 Mal deutlich hörbar, eingebettet in unterschiedlichste Rhythmen, Stile oder Akkorde. Das ist das Prinzip der Passacaglia, die auf der steten Wiederholung eines unveränderten Themas aufgebaut ist.
Stevensons Reise führt von der barocken Klaviersuite mit ihren Tanzsätzen über überschießende Repetitionen und Tschaikowsky-nahe Akkorde zu wilden Steigerungen. Sie brechen ab, Neues beginnt zerbrechlich und gläsern transparent. Eine Jazzballade mündet in einem großen Schrei, Glocken, Arpeggien, Cluster, Hammerschläge, ein dumpfer Trommelwirbel, wenn Levit die Basssaiten im Flügel abgreift, oder irrwitzige Glissandi fordern die Anschlagskunst des Pianisten heraus.
Gigantisches Fugengebilde
Wie Schostakowitsch, der unter anderem 24 Präludien und Fugen schuf (Igor Levit hat sie im Herbst auf CD herausgebracht) verehrte auch Ronald Stevenson den großen Meister Johann Sebastian Bach, der ebenso mit seinen tönenden Initialen spielte. So errichtet Stevenson über diesen beiden Viertonthemen und zuletzt mit der gregorianischen Melodie des „Dies irae, dies illa“ – alle drei passen und greifen ineinander – ein gigantisches Fugengebilde.
Wie Levit dieses Brausen, das Auf und Ab der Emotionen, Höhepunkte und Zusammenbrüche in diesem einzigartigen Werk meistert, ist ebenso begeisternd wie erschütternd.
Katharina von Glasenapp