Eine Notwendigkeit der Melancholie

Regisseurin und Komponistin von „Melencolia“ Brigitta Muntendorf spricht im Interview über die Widersprüchlichkeit melancholischer Stimmungen.
In „Melencolia“ präsentieren Brigitta Muntendorf und Moritz Lobeck neue transdigitale Möglichkeiten des Musiktheaters mit künstlichen Stimmen, einer Gleichzeitigkeit von realen und imaginären Welten umgeben von einem dreidimensionalen Audiosystem, in dem die Klänge sich im Raum bewegen.
Gründe der Melancholie
Über Jahrhunderte hinweg zerbrachen sich die Menschen die Köpfe über die Gemütsstimmung der Melancholie. Ist es eine Depression, eine Krankheit? Oder ist es wie Brigitte Muntendorf interpretiert, eine Stimmung, die wir brauchen, damit wir lernen, Konflikte auszuhalten, für die es keine Lösung gibt?
Sie sieht die Melancholie als etwas „Notwendiges“, deren Besonderheit auch darin liegt, „dass es so viele Zuschreibungen gab und bis heute keine eindeutige Definition gefunden wurde“. Auf jeden Fall ist es für sie etwas „Bewegliches“ und damit im Gegensatz zum Tod „ein Moment, an dem man noch etwas verändern kann“.
„Melencolia“ greift das Phänomen der Melancholie auf und versucht, die verschiedenen Aspekte der melancholischen Stimmung zu beleuchten. Der Anspruch Muntendorfs war es, nicht nur melancholische Musik, sondern auch Umgebungen zu erschaffen, in denen sich melancholische Situationen herstellen lassen.
Um diese Wahrnehmungen zu erzeugen, werden die 14 Musiker vom Ensemble Modern nicht in einem Orchestergraben sitzen, sondern das ganze Musiktheater performativ beschreiten. Statt Solosängern gibt es künstliche Stimmen von künstlichen Intelligenzen. „Ich habe die Stimmen von zwei Musikern geklont und kann der Stimme dann natürlich jeden Text geben, das klingt dann wie die Originalstimme eines Musikers“, sagt Muntendorf und erklärt, wie die Musiker sprechen und dann von ihren digitalen Zwillingen (den künstlichen Stimmen) abgelöst werden und Texte erzählen, aber auch singen.
Die Regisseurin fand es spannend, künstliche Stimmen ins Musiktheater zu integrieren, die wir sonst als „Dienstleisterstimmen aus dem Navigationssystem vom Auto oder von Alexa kennen“. Diese Stimmen lässt sie performen und zeigt dabei auch deren Fragilität. „Es gibt Stimmen, denen ist langweilig, sie stottern, haben Fehler oder sind auch melancholisch. Das fand ich ganz witzig, mit sowas zu arbeiten, was ganz klar aus der digitalen Welt kommt und dann auf einmal so menschlich wird.“
Zusammen mit den Stimmen der Künstlichen Intelligenz singt ein lokaler Chor aus sechs Sängern. Auch visuell werden digitale Welten genutzt. Das Publikum kann dabei zusehen, wie die Musiker und der Chor immer wieder in zwei auf der Bühne befindlichen Greenscreen-Studios gehen und dabei in imaginäre Welten auftauchen, welche auf drei großen Bildschirmen erscheinen. Man kann gleichzeitig beobachten, was die Musiker in den realen Greenscreens machen und sieht die Personen, wie sie in die künstlichen Welten versetzt werden.gleichzeitig beobachten, was die Musiker in den realen Greeenscreens machen und sieht die Personen, wie sie in die künstlichen Welten versetzt werden.
Immersives Hörerlebnis
Virtuell gibt es sechs unterschiedliche Szenen. Einmal spielen nordische Schicksalsgöttinnen mit dem Schicksal der Menschen, während vor ihnen ein Cellist sich an einem ultraschweren Cellosolo abarbeitet und wie in einem Hamsterrad gefangen ist.
Dann sieht man wiederum den berühmten Dudelsackspieler Saeid Shanbehzadeh aus dem Iran, wie er mit dem Ensemble auf der Bühne zusammen spielt. „Die spielen mit einem Solisten, der physisch nicht anwesend, aber virtuell sichtbar ist. In der Szene geht es um das Sterben, um Abschied, also auch eine Situation, bei der man eigentlich auch in eine Form einer Melancholie verfallen kann, weil der Tod ja etwas ist, was wir nicht begreifen können, und dem wir so ratlos gegenüberstehen“, beschreibt Muntendorf.
Ein 3D-Audiosystem soll dabei das Gefühl vermitteln, dass Shanbehzadeh und auch die anderen Stimmen live im Raum sind. Das Publikum ist umgeben von 60 Lautsprechern, wodurch sich „was sehr Immersives“ ergibt. „Man hat das Gefühl, die Klänge wandern um einen herum und erzählen Geschichten.“, sagt Muntendorf.
Die Schönheit der Vergänglichkeit
Zwar zeigt das Stück auch die Abgründe, „aber wir haben schon die Auffassung, dass wir Melancholie brauchen.“, sagt Muntendorf und erklärt, wie in der japanischen Kultur die Melancholie als „große Schönheit“ beschrieben wird, in der auch die „Schönheit des Vergänglichen“ gesehen und zu schätzen gelernt wird. „In unserer westlichen Kultur finden wir Vergänglichkeit ja immer schlimm und versuchen, dagegen anzukämpfen, so als würde der Tod unsichtbar gemacht werden.“ Eine japanische Bratschenspielerin wird das Publikum in einem Karaokelied in die Melancholie einer Japanerin mitnehmen, „die von Tokio in die Kleinstadt reist, weil sie dort ihre Karriere nicht geschafft hat. Dann steigt sie aus und kommt in eine Leere der Winterlandschaft“, die auch in der visuellen Welt projiziert wird.
Das Stück ist sehr experimentell, energetisch und hat viele skurrile und humorvolle Elemente, es „gehört auch in die Rubrik Zeitgenössische Musik“, sei aber dennoch sehr zugänglich, sagt Muntendorf. „Man steigt da ein in den Zug, dann rast das durch, dann steigt man am Ende wieder aus.“
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