„Die Menschen sind müde und mürbe geworden“

Interview. Im vergangenen Jahr haben so viele Menschen wie noch nie bei der Telefonseelsorge angerufen.
Wie intensiv sind die Feiertage bei der Telefonseelsorge verlaufen?
Sepp Gröfler: Die Zahl der Anrufe war auf hohem Niveau, es gab aber weniger akute Krisen. Einige Menschen haben sich nach längerer Zeit wieder an die Telefonseelsorge gewandt, da wir ihnen in einer früheren Krise sehr hilfreich waren.
Mit welchen Problemen wurden Sie dabei konfrontiert?
Gröfler: Die Telefonseelsorge bietet Beratung und Begleitung bei Tag und bei Nacht an. Einsamkeit, psychische Krisen und Beziehungskonflikte sind die Top-Themen. Probleme in der Partnerschaft haben sich zuge-spitzt, Unstimmigkeiten in der Familie, Kränkungen, aber auch die Sehnsucht nach Zweisamkeit und Liebeskummer wurden vermehrt registriert.
Gab es Auffälligkeiten?
Gröfler: Interessant war, dass Jugendliche vermehrt zum Thema „Suizid und Sorge um Suizidgefährdete“ angerufen haben. Das sind zwar nur wenige Anrufe im Monat, aber diese sind umso dramatischer. Aus dem Suizidbericht 2021 geht hervor, dass 2021 nur ein Todesfall eines Jugendlichen durch Suizid zu be-trauern war. Sonst waren das drei bis vier Jugendliche im Jahr. Die gemeinsame Kampagne von Supro Vorarlberg, Rat auf Draht und der Telefonseelsorge Vorarlberg (www.bittelebe.at, Anm.) scheint zu greifen. Die Zeit um den Jahreswechsel wird von einigen Anruferinnen und Anrufern allerdings auch dafür genützt, um uns ihre Dankbarkeit zu zeigen. Wir bekommen in diesen Zeiten auch viel Wertschätzungen aus unterschiedlichsten Richtungen.

Die Zahl der Anrufe bei der Telefonseelsorge steigt seit Längerem. Wie schauen die Zahlen aus dem vergangenen Jahr aus?
Gröfler: Im vergangenen Jahr hatten wir mit 17.800 Anrufen noch einmal eine Steigerung gegenüber dem intensiven Jahr 2021 zu verzeichnen.
Was sind Ihrer Ansicht nach die Gründe für diese Zunahme?
Gröfler: Menschen, die sich bei der Telefonseelsorge melden, empfinden sich nicht selten auf der Schattenseite des Lebens. Da kann ein gesprochenes oder geschriebenes Wort zu einem hellen Moment werden. Covid und seine Auswirkungen, Krieg in der Ukraine, Teuerung, Klimaerwärmung – seit 2019 löst eine Krise die nächste ab. Es ist inzwischen eine „Krisenerschöpfung“ spürbar. War am Anfang noch die Devise „Durchhalten, es wird schon bald ausgestanden sein“ vorherrschend und eine hohe Solidarität untereinander zu spüren, so zeichnet sich inzwischen ab, dass die Menschen müde und mürbe geworden sind.
Was bewirkt das?
Gröfler: Erschöpfung macht sich breit. Immer wieder werden wir auch als „Mutmach-Tankstelle“ genützt. Dazu kommt: Die Balance der Fairness ist aus dem Gleichgewicht geraten. Viele Menschen können nicht nachvollziehen, wieso zum Beispiel die Holzpreise so stark gestiegen sind, die Sägewerke aber volle Lager haben, der Strompreis überdurchschnittlich steigt, aber der Strom im Land erzeugt wird. Der soziale Frieden ist gefährdet, wenn die Schere der Einkommen zu sehr auseinanderdriftet und den „Rahm“ nur einige wenige abschöpfen.

Haben sich prinzipiell die Probleme der Menschen in den vergangenen Jahren geändert?
Gröfler: Einsamkeit und psychische Belastungen haben überproportional zugenommen. Die Telefonseelsorge muss manchmal auch lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz oder eine Beratungsstelle überbrücken. Hilfreich ist, dass Einsamkeit aus der Tabuzone herausgetreten ist und öffentlich darüber diskutiert werden kann. Zusätzliche Hilfsangebote, wie zum Beispiel das Community Nursing, sind entstanden und tragen zu einer Entlastung bei.
Wie ist derzeit die Stimmung bei den Anruferinnen und Anrufern? In Lockdownzeiten wurden ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ja auch beschimpft.
Gröfler: Müde, ausgelaugt und erschöpft würde ich sagen. Beschimpfungen waren hauptsächlich in der Hochzeit der Covid-19-Krise zu registrieren und kommen kaum mehr vor. Regenerationszeiten werden immer länger. Notwendende Veränderungen scheinen nur in Zeitlupe vonstatten zu gehen.
Wie ist eigentlich mittlerweile das Geschlechterverhältnis bei den Ratsuchenden?
Gröfler: Männer holen auf. Früher machte ihr Anteil an unseren Beratungen circa ein Drittel aus, letztes Jahr erhöhte sich diese Zahl auf 45 Prozent. Immer mehr Männer suchen das Angebot eines Gesprächs oder einer Onlineberatung.

Warum hat sich das geändert?
Gröfler: Darauf gibt es leider keine fundierte Antwort. Meine Vermutung ist, dass die gesellschaftlichen Veränderungen, das Zurückdrängen des Patriarchats und mehr Partnerschaftlichkeit zwischen Mann und Frau – auch wenn immer noch genug Aufholbedarf besteht – , es Männern inzwischen leichter macht, Schwächen einzugestehen. Dazu gibt es vermutlich mehr Akzeptanz von Beratungseinrichtungen von Männern, und der Glaubenssatz „Ein Mann muss stark sein“ verliert immer mehr seine Kraft.
Gehen Sie davon aus, dass die Zahl der Anrufe auch in Zukunft steigen wird?
Gröfler: Unsere Anrufzahlen sind auf einem hohen Niveau, und ich denke, dass wir den Plafond der Beratungsanfragen erreicht haben und sie auf diesem Niveau bleiben oder wieder leicht zurück gehen werden. Die hohe Zahl der Anrufe sagt nichts über das einzelne Schicksal aus, welches hinter jeder Sorge steht. Jeder Suizid ist einer zu viel, jede Gewalterfahrung muss vom einzelnen Opfer und einem Umfeld getragen werden. Das einzelne Leiden ist zwischen den Zahlen nicht zu erspüren.
Zur Person
Sepp Gröfler
Geboren 1961. Leiter der Telefonseelsorge Vorarlberg. Sozialpädagoge und Familien- und Gruppenarbeiter. Spielt im Amateurbereich Theater und Kabarett, versucht sich als Autor und verfolgt die Mission „mehr Humor in die Welt zu bringen“ (Homepage www.beff.at). Verheiratet mit Margarethe, drei erwachsene Kinder, drei Enkelkinder.
