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Soll Staat härter gegen “Klimakleber” vorgehen?

15.01.2023 • 15:12 Uhr / 7 Minuten Lesezeit
Klimaaktivistinnen und -aktivisten der Organisation "Letzte Generation" haben am 9. Jänner 2023 ihre angekündigte Aktionswoche in Wien gestartet und Straßen vor Schulen blockiert
Klimaaktivistinnen und -aktivisten der Organisation “Letzte Generation” haben am 9. Jänner 2023 ihre angekündigte Aktionswoche in Wien gestartet und Straßen vor Schulen blockiert APA/EVA MANHART

Sie kleben sich an Straßen fest oder schütten Suppe auf Kunstwerke.

Seit 45 Jahren setze ich mich für Umweltschutz ein und bin oft genug daran verzweifelt, wie lange das alles dauert. Wie beharrlich die Gegenkräfte sind und wie träge sich die Einsicht durchsetzt, dass wir unseren Lebensstil mit Blick auf Energie, Ressourcenverbrauch, Konsum und Mobilität ändern müssen.

Aber in der zivilisierten Welt gibt es Regeln, um Ideen zu verbreiten. Niemand ist allein “gescheiter” als die anderen. Niemand kann der Gesellschaft seinen weisen Ratschluss aufzwingen. Wer etwas ändern will, muss sich der Mühe unterziehen, Diskussionen zu führen, Argumente vorzubringen, Mitmenschen zu überzeugen und Mehrheiten zu organisieren. Das ist der Preis für Zivilisation, Rechtsfrieden und Demokratie. Ein kleiner Preis für einen großen Wert, wie ich meine.

Die Klimakleber werfen das alles beiseite, denn ihr Entschluss steht fest: Für Demokratie und Rechtsstaat haben wir keine Zeit, mit so etwas halten wir uns nicht mehr auf. Damit stellen sie sich auf eine Ebene mit Reichsbürgern, Kapitol-Stürmern und jenem Mob, der kürzlich in Brasilien zu ungeduldig war, um Demokratie zu ertragen. Sie sind bereit für das Faustrecht – bereit für die Verblendung, den Rechtsstaat mit Methoden der politischen Erpressung und Nötigung auszuhebeln. Das alles mit der gefährlichen Begründung, man habe ja recht und kämpfe für die edle Sache. So klein haben alle Faschisten und Terroristen der Weltgeschichte angefangen.

Am Anspruch, man sei gewaltfrei, ist man gescheitert, denn Nötigung ist sehr wohl Gewalt. Das Blockieren einer Zufallsgruppe von Autofahrern schafft maximale Ungerechtigkeit: Dort und da mag vielleicht ein Ignorant im Stau stehen, der gerade in Namibia auf Safari gehen will und nun sein Flugzeug versäumt. Im selben Pulk stehen aber auch Hauskrankenpfleger, Alleinerzieherinnen, Paketboten und Taxifahrerinnen, die elementar auf ihre Erwerbstätigkeit angewiesen sind und/oder wichtige Dienste für die Gesellschaft leisten. Man nimmt die Falschen in Geiselhaft, vertieft die Spaltung, erschwert sachliche Debatten. Man stößt alle rechtstreuen Umweltschützer vor den Kopf und erweist dem wichtigen Anliegen einen Bärendienst.

Die ökologische Dringlichkeit gibt es. Aber das daraus behauptete übergesetzliche Notwehrrecht gibt es nicht. Wer die Demokratie verletzt, um der Umwelt zu helfen, wird am Ende beides verlieren. Meine stille Hoffnung ist, dass die Klimakleber in Wirklichkeit diese Zusammenhänge gut durchdacht haben und einfach nur Märtyrer werden wollen. Diesen Gefallen sollten wir ihnen durch strenge Anwendung der Gesetze tun. Wenn der Staat hart durchgreift, macht er sich wie geplant zum Handlanger der listigen Klimakleber. Das sind wir der guten Sache einfach schuldig.

Ernst Sittinger (56) ist promovierter Jurist und Mitglied der Chefredaktion der Kleinen Zeitung.
Ernst Sittinger (56) ist promovierter Jurist und Mitglied der Chefredaktion der Kleinen ZeitungSonstiges

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Gewalt ist keine Lösung. Sagt man. Wenn ein Autofahrer auszuckt, aus dem Auto springt und gegen einen Aktivisten tritt, der “seine” Straße blockiert, ist die Emotion vielleicht nachvollziehbar, aber es ist dennoch Gewalt. Die Szene, die sich diese Woche in Wien abgespielt hatte, ging im Internet freilich viral. Soziale Medien lieben jede Art von Auszucker und wir traditionelle Medien offenbar auch. Sonst hätte ich diese Szene ja jetzt nicht beschrieben. Die Klimakleber regen auf. Aber muss man sie gleich einsperren, weil sie am Zebrastreifen sitzen?

Die “Letzte Generation” ist quasi der radikale Flügel von “Fridays for Future”. Sie werfen Erdäpfelsalat auf Kunstwerke und picken sich selbst auf Straßen oder Flughäfen fest. Ist das schlau? Verspielen sie damit nicht gerade die breite gesellschaftliche Zustimmung in Sachen Klimawende? Gut möglich. Doch ziviler Ungehorsam geht eben nicht zusammen mit herkömmlichen Methoden des Protestes. Die “Letzte Generation” ist zum Schluss gekommen, dass Reden bis jetzt nichts gebracht hat. Vom 1,5-Grad-Ziel ist man nämlich weit weg, die Zeit drängt, daher werden die Maßnahmen zugespitzt.

Trotzdem kann man sich fragen: Sind die Forderungen der Aktivistinnen und Aktivisten so utopisch, dass man ihren Protest hart sanktionieren muss? Aktuell wollen sie für Österreich zwei Dinge: Tempo 100 auf den Autobahnen und ein Aus für Fracking, also keine weiteren Öl- und Gasprojekte mehr. Zumindest das Tempolimit wäre leicht umzusetzen, es würde Sprit sparen und Feinstaub reduzieren, wenn man gern konkrete Vorteile von einer Klimaschutzmaßnahme hat. Aber was hört man von der Politik dazu? Die ÖVP-Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm sagte diese Woche in der ZiB 2, die ganzen Aktionen seien “völlig daneben und respektlos”. Zur Frage, warum man nicht zumindest ein simples Tempolimit umsetzen könnte, meinte sie kurioserweise, dass man lieber “an den großen Schrauben drehen” müsse. Aha.

Sind die Klimakleber also jetzt durchgeknallte Leute, denen man, wie NÖ-Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner fordert, mit Haftstrafen wieder ein bisschen “Respekt” beibringen muss? Nein. Die Ziele sind richtig, auch wenn der Protest selbst vielleicht nervt.

“Hört auf die Wissenschaft!”, lautet das Leitmotiv des Klimaaktivismus. Franz Essl, Wissenschaftler des Jahres, Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb und Reinhard Steurer, Professor für Klimapolitik an der BOKU unterstützen die Klimakleber.

Zynischer Funfact zum Schluss: Der Ölkonzern ExxonMobil hat schon seit den 1970er-Jahren durch eigene Studien gewusst, dass fossile Brennstoffe zu enormer globaler Erderwärmung führen. Aber diese Infos hat man schön für sich behalten. Es lief einfach zu gut mit dem Öl-Business.

Barbara Haas (48) ist Journalistin. Sie leitet das Ressort Podcast und hostet den Gesellschaftspodcast „fair&female“. Empfehlung: In Episode #36 spricht sie mit der 16-jährigen Klimaaktivistin Paula Dorten über „activism burnout“.
Barbara Haas (48) ist Journalistin. Sie leitet das Ressort Podcast und hostet den Gesellschaftspodcast “fair&female”. Empfehlung: In Episode #36 spricht sie mit der 16-jährigen Klimaaktivistin Paula Dorten über “activism burnout”.Kleine Zeitung

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