Orgelpfeifen im Heulen der Gegenwart

Im Kunsthaus Bregenz präsentiert die Künstlerin Valie Export ab heute eine „Tonskulptur“ aus Orgelpfeifen.
Von der Decke im Erdgeschoss hängen die Orgelpfeifen herunter. In verschiedenen Größen sind sie verteilt, zwischen ihnen die Köpfe der Besucher. Hölzerne Blöcke reihen sich an der Wand, und andere sind nebeneinander aufgeschichtet. Im Kunsthaus Bregenz (KUB) kann man die alten Pfeifen aus der Linzer Wallfahrtsbasilika „Sieben Schmerzen Mariae“ am Pöstlingberg ganz aus der Nähe betrachten, denn die Künstlerin Valie Export hat 120 Pfeifen von der Kirche zuerst in ihr Studio nach Wien und dann einige davon nach Bregenz gebracht, und die einzelnen Teile des Musikinstruments voneinander getrennt, zweckentfremdet und als „Tonskulptur“ wieder neu zusammengesetzt.
Lied von Charles Mingus
Neben dem Skulpturalen wird im Kunsthaus auch das Tönende (Auditive) der Orgelpfeifen präsentiert. „Das haben wir mit Vorarlberger Musikern gemacht“, erzählt KUB-Direktor Thomas Trummer beim gestrigen Pressegespräch zur Eröffnung der neuen Ausstellung. Aus mehreren Lautsprecherboxen dringt die eigens kreierte Musik. Orgelklänge vermischen sich mit dem Lied „Oh Lord, Don’t Let Them Drop That Atomic Bomb on Me“ von Charles Mingus, das der Musiker am Höhepunkt der Auseinandersetzungen um den Vietnam-Krieg geschrieben hat. Ein Lied, das die Künstlerin schon lange kennt und das als Musikbild die Verbindung zwischen den Orgelpfeifen und der Gegenwart sei, sagt Trummer. Einige der Pfeifen sind zu einer sogenannten „Stalinorgel“ zusammengebaut und erinnern an die gefürchtete Raketenbatterie aus dem Zweiten Weltkrieg. Export hat die Orgelpfeifen aus dem sakralen Zusammenhang gehoben und als furchteinflößende Elemente der Zerstörung installiert. Beim Gespräch über die Planung des Kunstprojekts wollte man die Ausstellung so schnell wie möglich realisieren, „weil die Zeit jetzt sehr drastisch dafür spricht, diese Ausstellung zu machen. Dass es so drastisch ist, wie wir es jetzt in diesen Tagen erleben, hat sich niemand erwartet, aber es ist wirklich jetzt sehr ernst“, sagt Valie Export in Bezug auf die Drohungen in der gegenwärtigen Weltpolitik und die jüngsten Ereignisse in der Ukraine.
Auf der Suche nach jemandem, der dieses historische Lied von Mingus unter Verwendung der Orgelpfeifen in die Gegenwart übersetzen kann, ist Trummer auf den amerikanischen Jazzmusiker Peter Madsen gestoßen, der teilweise auch in Vorarlberg lebt. Beim ersten Gespräch stellte sich heraus, dass Madsen zehn Jahre in der Charles Mingus Band gespielt habe. „Er hat gesagt, er hat das im Blut, wörtlich“, erinnert sich Trummer. Über Weihnachten schrieb er das Arrangement, dann hatte das Kunsthaus die Pfeifen vorübergehend nach Hard gebracht, wo Madsen zusammen mit sechs Musikerfreunden unter anderem auf den Pfeifen das Charles-Mingus-Stück einspielte. Als Sänger hört man den Vorarlberger George Nussbaumer. Heute Abend spielt die Band um 20 Uhr bei der Eröffnung.
Beeindruckendes Instrument
Schon mehrmals haben der KUB-Direktor und die Künstlerin zusammengearbeitet, unter anderem für die Ausstellung in Amerika „Voice and Void“ (auf Deutsch „die Stimme und die Leere“). Ein bisschen was verspüre man von dieser Idee nun auch im Kunsthaus, sagt Trummer. Mit dem Thema der Stimme habe sich Export schon im Jahr 1969 beschäftigt und untersuchte in ihrem Projekt „Tonfilm“, das aus medizinischen Gründen nicht realisiert werden konnte, die Mechanismen von Stimme und Kommunikation. Ähnlich wie die Stimme würden auch die Orgelpfeifen funktionieren. „Jede Orgelpfeife spricht ihren eigenen Text“, erklärt Export.

Die Künstlerin durchlebte schon als Kind das Spiel der Orgelpfeifen in Verbindung mit den Singstimmen eines Frauenchors als „erheblich“ und „nach aufwärts strebend“. Damals habe sie sich in das Orgelinstrument verliebt. Beim Klavierspiel zu Hause wurden ihre „eigenen Kompositionen“ von der Familie jedoch „nicht geliebt“, an den damals üblichen Unterrichtsinhalten sei sie nicht interessiert gewesen, schildert die Künstlerin. Daher habe sie den Flügel des Klaviers aufgemacht und zwischen die Seiten Papierblätter hineingelegt. Man gehe mit einem Instrument um, so wie man es vor sich hat, erklärt sie. „Auf jeden Fall sind mir der Orgelton und das Orgelinstrument immer in Erinnerung geblieben.“
Bunte Symbolik
Anstelle der alten Orgelpfeifen, welche im KUB zu Kunstobjekten wurden, gibt es in der Marienkirche am Linzer Pöstlingberg nun neue. Für die neue Orgel gestaltete Export die Ornamentik. Am Spruchband an der Balustrade steht der Satz von ihr „Wer begreift, hat Flügel“, den sie aufgrund der bunten Symbolik für eine Marienkirche sehr passend fand: „Wir haben alle Flügel, wir Frauen fliegen alle, wir wissen alles.“
In den nächsten vier Wochen wird das Kunsthaus im zweiten Stock Themenwochen veranstalten. In einem mobilen, von der Künstlerin Christine Lederer gestalteten Studio werden den Themen Mut, Friede, Angst und Armut im Dialog begegnet. Jeden Donnerstag gibt es öffentliche Diskussionsrunden mit Experten aus diversen Bereichen. Valie Exports Ausstellung „Oh Lord, Don’t Let Them Drop That Atomic Bomb on Me“ wird bis 10. April im Erdgeschoss des Hauses zu erleben sein. Die anderen Stockwerke sind derzeit für Ausstellungen gesperrt. Die alten Neonröhren von 1997 sollen durch einfache LEDs ausgetauscht werden. Dieser Prozess, der die nächsten sechs Wochen andauern wird, soll beim Licht für die Einsparung von 50 Prozent der Energiekosten sorgen.
Eröffnung: Freitag, 19 Uhr im KUB.
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