Zwei Schüsse fallen in einer Wohnung in Vorkloster

Eine italienische Arbeitsmigrantin wird 1912 in Vorarlberg zum Opfer eines Schussattentats. Der Täter ist ihr Ex-Freund, von dem sich die Frau kurz zuvor getrennt hatte.
Am Samstag, dem 28. September 1912 fallen in einer Arbeiterwohnung in Vorkloster zwei Schüsse. Zwei Männer stürmen in ein Zimmer und überwältigen einen dritten. Am Boden liegt eine verletzte Frau, vier andere sind schwer geschockt. Was ist geschehen?
Noch am Sonntag rückt eine Gerichtskommission aus, das damals noch zur selbständigen Gemeinde Rieden gehört, um den Fall zu untersuchen. Während der erste Schuss die Frau verfehlt hat, traf der zweite ihren Kopf. Man hoffe, „die Verletzte am Leben zu erhalten“, berichtete das „Bregenzer Tagblatt“ am folgenden Montag.
Anschlag aus Eifersucht
Die erst 18-jährige Italienerin Angiolina Candelone aus Pianezza in der Nähe von Turin lernt im Mai 1911 den 25-jährigen Spengler Ercole Giovanni Zegna kennen und beginnt mit ihm eine Beziehung. In den österreichischen Berichten wird später aus Ercole Giovanni, wie damals üblich, Herkules Johann. Im Oktober muss er zum Militär einrücken, desertiert aber bereits im Dezember und flieht ins damals österreichische Trentin. Die schwangere Angiolina folgt ihm dorthin. Zegna wird von der Gendarmerie wegen Spionageverdachts verhaftet. Dieser lässt sich zwar nicht erhärten, die Bezirkshauptmannschaft Primiero fordert ihn dennoch zur Ausreise auf und untersagt ihm die Rückkehr nach Österreich. Im März 1912 erleidet Angiolina eine Fehlgeburt.
Ihr Freund ignoriert die behördliche Ausweisung und sucht sich eine Arbeitsstelle. Doch die Bezirkshauptmannschaft Bozen spürt ihn schließlich auf und weist ihn erneut „aus Rücksichten der öffentlichen Ordnung und Sicherheit aus sämtlichen österreichischen Ländern“ aus. Er wird in Schubhaft genommen und den italienischen Behörden übergeben, die den Deserteur vor Gericht stellen. Ercole Zegna soll ein Jahr Festungshaft in Verona absitzen. Dort besucht ihn seine Freundin Candelone und erhält von ihm Bargeld und Kleidungsstücke. Mit den 30 Kronen, nach heutigem Wert etwa 200 Euro, macht sie sich nach Vorarlberg auf, wo sie eine Arbeitsstelle bei der Schoellerschen Kammgarnspinnerei in Aussicht hat.
Die Beziehung zerbricht
Zegna selbst hält es nicht lange in der Festung Verona. Als er im August 1912 wegen einer Erkrankung ins Militärspital kommt, nützt er die Gelegenheit zur Flucht. Er gelangt nach Vorarlberg, wo er seine Freundin sucht. Er will Angiolina nach St. Gallen holen, wo er vorhat, sich Arbeit zu suchen.
Doch sie fühlt sich in Vorarlberg wohl. Auch ihre Zuneigung zu Ercole ist abgekühlt. Sie könne keinen Deserteur heiraten, erklärt sie ihm. Zegna droht nun seiner Ex-Freundin, sie und sich zu erschießen, sollte sie ihn verlassen. Er könne ohne sie nicht mehr leben, behauptet er. „Die Candelone nahm die Drohung zwar nicht ernst, hieß aber den Angeklagten, solche Äußerungen zu unterlassen; sonst gehe sie auf die Polizei“, heißt es später in einem Zeitungsbericht.
Weitere Drohungen
Schließlich fordert Zegna das Gewand und die 30 Kronen zurück, die Candelone von ihm in Verona erhalten hat. Sie folgt ihm aber zunächst nur die Kleidungsstücke aus. In Vorkloster ist sie bei anderen italienischen Arbeitern in der Schulgasse untergekommen. In der Wohnung, wo sie ihrem Ex-Freund die Sachen übergibt, versucht er sie erneut mit Drohungen in eine Beziehung zu zwingen. Er setzt sich ein mitgebrachtes Rasiermesser an den Hals und droht mit Selbstmord. Angiolina Candelone gelingt es aber, ihm die Klinge abzunehmen. Melodramatisch steckt er sich daraufhin ein Taschentuch in den Mund, als wolle er sich ersticken – auch dieses nimmt sie ihm ab. Es sind emotionale Erpressungsversuche, wie sie auch heute im Vorfeld von Frauenmorden vorkommen.
„Um den Zudringlichen zu beschwichtigen und ihn vom Selbstmord abzuhalten, versprach die Candelone, sie komme nach St. Gallen, wenn er dort eine Stelle für sie finde“, berichtet eine Zeitung später. Außerdem übergibt sie dem Arbeitslosen zehn Kronen. Als Zegna ihr einige Tage später schreibt, sie könne in einer St. Galler Fabrik arbeiten, und um mehr Geld bittet, erhält er eine abweisende Antwort. Candelone will nach den Vorfällen endgültig nichts mehr von ihm wissen. Er solle ihr nicht mehr schreiben, sie denke nicht mehr an ihn, antwortet sie postalisch.
Ercole Giovanni Zegna kauft sich daraufhin in St. Gallen einen Revolver samt Patronen und fährt am 28. September 1912 in der Absicht nach Bregenz, Angiolina Candelone zu ermorden und sich anschließend selbst zu töten. Als er in deren Wohnung ankommt, stellt er sich der Quartiergeberin Antonia Bettolo als ihr Verlobter vor. Sie gehöre ihm, erklärt er. Als Candelone mit drei Arbeitskolleginnen nach Hause kommt, stellt ihr Ex-Freund sie zur Rede: Ob sie denn ihren Brief nicht bereue, will er von der Frau wissen – diese verneint. Trotzdem darf der gewaltbereite Ex-Freund zum Abendessen bleiben. Ihr würden die servierten Nudeln noch im Hals steckenbleiben, bemerkt er dabei.
Die Tat
Als Caldone und ihre Kolleginnen nach dem Essen in ihr gemeinsames Zimmer gehen, folgt ihnen Zegna unaufgefordert. Die anderen Frauen wollen daraufin hinausgehen, doch „Candelone bat sie, zu bleiben, da sie sich von Zegna, der sie schon vorigen Sonntag mit Umbringen bedroht habe, fürchte. Zegna fragte die Candelone neuerlich, ob sie den Brief nicht bereue; auf ihr ‚Nein!‘ erklärte er, ihr fünf Minuten Zeit zum Überlegen zu geben, und richtete auf ihre Erwiderung, daß sie schon überlegt habe, den geladenen Revolver aus einer Entfernung von ungefähr zwei Schritten auf Candelone“, fasst das „Bregenzer Tagblatt“ später die Ermittlungsergebnisse der Gendarmerie zusammen.
„Ich töte dich!“
Ercole Giovanni Zegna
„Ich töte dich!“, ruft Ercole Zegna. Das hört die Quartiergeberin Antonia Bettolo, die ins Zimmer kommt und Zegna todesmutig am Arm ergreift, um Caldone zu retten. Sie versucht den Mann aus dem Zimmer zu schieben, was ihr aber nicht gelingt. Angiolina Candelone will währendessen aus dem Zimmer fliehen, doch Zegna hindert sie mit vorgehaltener Waffe daran. Daraufhin läuft Bettolo nach draußen, um Hilfe zu holen. Zegna packt seine Ex-Freundin am Arm, drückt sie auf einen am Boden liegenden Koffer und schießt aus unmittelbarer Nähe in Richtung ihres Halses. Der erste Schuss verfehlt sein Opfer, weil es Caldone gelingt, sich auf die Seite zu winden. Doch der nächste trifft sie am Hinterkopf.
In dem Augenblick kommen zwei von Bettolo herbeigerufene Männer, Karl Stüble und Josef Plaickner, ins Zimmer. Sie werfen sich auf Zegna, der sich gerade den Revolver in den Mund stecken will, um sich zu erschießen. Es gelingt ihnen, ihm zu entreißen die Waffe. Sie fesseln den Angreifer, doch der will sich aus dem Fenster stürzen, was Plaickner verhindern kann.
Zu mildes Urteil
Angiolina Candelone überlebt den Angriff schließlich, dank einer Haareinlage und einer Haarspange, die sie unter ihrer Frisur trägt und die das Projektil abdämpfen, bevor es in ihrer Kopfhaut stecken bleibt. Wie durch ein Wunder kommt sie mit einer Quetschwunde davon.
Zegna wird am 2. Dezember 1912 unter anderem wegen versuchten Mordes zu verhältnismäßig milden zweieinhalb Jahren schweren Kerkers verurteilt. Auch die Zeitungen bagatellisieren den Mordversuch teilweise: Ein „rabiater Liebhaber“, sei Zegna gewesen, meinen die „Innsbrucker Nachrichten“. Die Staatsanwaltschaft beruft sofort gegen das Strafmaß. Bereits am 30. Dezember entscheidet das Oberlandesgericht und erhöht die Kerkerstrafe auf fünf Jahre.
Angiolina Candelone findet am Ende ihr Glück mit Aristodemo Cheli, einem Fabriksarbeiter in Rieden, den sie 1914 heiratet.
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