Rätselhaft und faszinierend

Mit der Produktion „Vessel“ gab es beim heurigen Bregenzer Frühling einen starken Auftakt.
Der Bregenzer Frühling begann heuer mit einer ungeheuer intensiven, bilderreichen, rätselhaften Produktion, die das Publikum am vergangenen Samstag für eine Stunde in ihren Bann zog. In „Vessel“ wird der Körper zur belebten Skulptur: Mit dem Ensemble vom Théâtre National de Bretagne erschafft der belgisch-französische Tänzer und Choreograph Damien Jalet gemeinsam mit dem japanischen bildenden Künstler Kohei Nawa und seinem Team eine Bild- und Körpersprache, die man so noch nie gesehen hat.
„Vessel“ kann ein Boot, ebenso ein Gefäß, auch ein Blut- oder Herzkranzgefäß bedeuten: Ausgangspunkt für das ebenso vieldeutige Geschehen, die Bewegungen in Zeitlupe, das Kreisen um ein Zentrum, das Pulsieren von Musik und Bewegung. Auf der großen Bühne des Bregenzer Festspielhauses ist ein weißes Gebilde, umgeben von Wasser. Im fast dunklen Raum werden nach und nach Knäuel von menschlichen Leibern sichtbar, die Tonspur mit asiatisch-elektronischer Musik schickt über dunklem Grundpuls ein feines Sirren und Blubbern in den Raum. Aus solchem Urzustand lässt Jalet eine geheimnisvolle Welt entstehen.

Langsam beginnen die Knäuel sich zu regen, voneinander zu lösen. Das Außergewöhnliche aber ist, dass Jalets belebte Skulpturen keine Köpfe haben: Sie sind zwischen den Armen der drei Tänzerinnen und vier Tänzer verborgen, man sieht nur den wie ein Uhrpendel schwingenden Rücken, den Rumpf, die Beinmuskulatur, den Puls, den Atem. Manchmal gleichen die Figuren Kopffüßlern, die sich zum rituellen Tanz zum Klang asiatischer Schlaginstrumente gefunden haben. Manchmal ähneln sie Käfern, Heuschrecken oder Baumgerippen in einer Sumpflandschaft – der deutenden Phantasie sind keine Grenzen gesetzt
Die Bewegungen sind exakt auf die Musik, ihre Steigerungswellen und Schläge abgestimmt. Fantastische Bilder entstehen, wenn sich durch die Lichtführung von Yukiko Yoshimoto die menschlichen Knäuel im Wasser spiegeln. Das Gebilde im Zentrum wird immer mehr zu einem Gefäß mit einer weißlichen Masse darin, die einer der Tänzer schöpft und über Kopf und Oberkörper rinnen lässt: Jalet und Nawa haben hier Kartoffelstärke vermengt, deren Konsistenz variabel ist.

Der Höhepunkt ist erreicht, wenn alle sieben sich zu einem vielgliedrigen „Insekt“ vereinigen. Schließlich – ein Ereignis! – wird zum ersten Mal ein Kopf sichtbar, ein Mann hebt sich aus dem kleisterartigen Schlamm, steht, atmet, wird durchzuckt von Stromstößen, schwankt, Nebel steigt auf, der Mann versinkt …
Nach einer Stunde intensivster, konzentrierter Bewegungskunst üben die sieben Tänzerinnen und Tänzer den aufrechten Gang und springen zum Jubel des Publikums fröhlich durchs Wasser: ein starker Auftakt des Bregenzer Frühlings! Katharina von Glasenapp
Nächste Aufführung am Samstag, 18. März: Israel Galván Company mit „Seises“.
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