„Wir werden oft als Bittsteller gesehen und behandelt“

Am Dienstag ist Welt-Down-Syndrom-Tag. Martina Natter, Obfrau der Arbeitsgruppe Down-Syndrom-Vorarlberg über ihren Sohn Matthias, Schwierigkeiten und Freuden.
Am Dienstag ist Welt-Down-Syndrom-Tag. Nützt dieser Tag den Betroffenen?
Martina Natter: Ja, denn wenn jemand in der Öffentlichkeit nicht sichtbar ist, wird man bei wichtigen Entscheidungen oft nicht mitgedacht. Daher ist es für uns wichtig, am Welt-Down-Syndrom-Tag sichtbar zu sein und unsere Anliegen zu kommunizieren.
Einer ihrer drei Söhne, Matthias, hat das Down-Syndrom. Was war in seiner Erziehung anders als bei den anderen beiden Kindern?
Erziehung ist eine sehr individuelle Sache. Alle drei Söhne sind sehr unterschiedlich. Für Eltern ist Erfahrungsaustausch sehr wichtig. Das passiert in der Familie, vor dem Kindergarten und so weiter. Das geht von der Frage „Wo bekomme ich eine dichte Regenhose?“ bis hin zu „Wie lernt mein Kind die Englischvokabeln leichter?“. Bei einem Kind mit Trisomie 21 stellen sich noch ein paar andere Fragen. Da ist es gut, sich in einem Elternverein zusammenzuschließen. In unserem Fall ist das die Arbeitsgemeinschaft Down-Syndrom-Vorarlberg.

Zur Person
Martina Natter
Geboren 1972 in Bregenz. Verheiratet mit Peter Natter. Drei Söhne: Matthias (18), Sebastian (17) und Maximilian (11). Sie lebt mit ihrer Familie in Lauterach. Seit Jänner 2022 Obfrau der Arbeitsgruppe Down-Syndrom-Vorarlberg.
Wie war es für Sie, als Sie erfahren haben, dass Sie ein Trisomie-21-Baby haben?
Niemand wünscht sich ein Kind mit einer Beeinträchtigung. Somit müssen Eltern in der ersten Zeit Trauerarbeit leisten. Also, sich von manchen Wünschen und Vorstellungen für die Zukunft verabschieden. Dabei sind ein offenes Umfeld, gute Gespräche, ein wertschätzender Umgang mit den frischgebackenen Eltern und eine Willkommensstimmung sehr wichtig und hilfreich.
Welches sind die (äußeren) Schwierigkeiten, auf die Sie im Laufe der Jahre gestoßen sind?
Woher bekomme ich Informationen, Unterstützung? Heute weiß ich, dass es zum Beispiel eine Erstberatung beim IfS gibt. Dort können alle Themen angesprochen werden und es gibt Unterstützung bei Behördengängen, Anträgen und anderem. Dann gibt es eine Vielzahl von Schwierigkeiten im Alltag.
Welche zum Beispiel?
Fahrrad begleitet, aber auch mit dem Auto gebracht und geholt. Jede und jeder weiß, wie anstrengend das für Eltern ist. Für uns Eltern von beeinträchtigten Kindern geht diese Phase aber viel länger. Vielleicht kann unser Kind nie selbstständig mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, bedarf also immer einer Begleitung, um am öffentlichen Leben – Vereine, Veranstaltungen, Arbeitsweg – teilzunehmen.
Gibt es dafür Unterstützung?
Mein Sohn Matthias geht jeden Dienstag zur Pfadfinderstunde nach Dornbirn. Mittlerweile übernimmt den Taxidienst eine Persönliche Assistenz. Iris holt ihn ab und bringt ihn wieder nach Hause. Diese Leistung kann ich mit Familienentlastungsgutscheinen vom Land bezahlen. Übrigens: Wer sich so eine Tätigkeit vorstellen kann, kann sich gerne bei der Persönlichen Assistenz in Dornbirn melden. Da sind noch viele Stellen frei.
Was sind beglückende Erfahrungen, die Sie bzw. Ihre Familie ohne Matthias nicht gemacht hätten?
Oh, das sprengt den Rahmen dieser Zeitung. In 18 Jahren ist viel passiert. Matthias ist eine wertvolle Persönlichkeit und einfach ein Teil unserer Familie. Wenn er am Morgen die Stiege herunterkommt, denke ich nicht an das Down-Syndrom. Er ist einfach Matthias.

Wo sehen Sie aktuell noch die größten Defizite im Umgang mit Menschen mit Down-Syndrom und gibt es auch Punkte, bei denen einfach nichts weiter geht?
Wir Familien werden in der Gesellschaft oft als Bittsteller gesehen und auch so behandelt. Dabei ist laut Menschenrechten jeder Mensch gleich an Würde und Rechten. Viele stellen sich aber über Menschen mit Behinderungen. Die Wertigkeit eines Menschen wird oft an seiner Arbeitskraft gemessen. Also daran, was ein Mensch wirtschaftlich einbringt. Eine möglichst vielfältige Gemeinschaft verlangt nach kreativen Ideen. Wenn wir in möglichst vielfältigen Gruppen aufwachsen, im Kindergarten, in der Schule, lernen wir, mit verschiedenen Bedürfnissen umzugehen, ihnen gerecht zu werden, an Herausforderungen zu wachsen und offen zu bleiben für verschiedene Lösungsansätze. Diese Fähigkeiten sind in der Forschung und Wirtschaft gefragter als auswendig gelerntes, bekanntes Wissen. Inklusion wäre daher für alle eine Bereicherung. Und dann gibt es noch einen Punkt.
Und zwar?
Derzeit ist es im Arbeitsleben lukrativer, mit Dingen zu handeln, als sich um Menschen zu kümmern. Dinge sind uns also mehr wert als Menschen. Da muss sich was bei den Arbeitsbedingungen verändern. Es reicht nicht, dass die Arbeit mit Menschen sinnstiftend und erfüllend ist. Das muss man auch auf dem Gehaltszettel sehen.
Laut einer im European Journal of Human Genetics veröffentlichten Studie von 2020 wird in Europa jedes zweite Kind mit Down-Syndrom abgetrieben. Warum kommt es, glauben Sie, zu dieser erschreckenden Zahl?
Wir leben in einer Optimierungsgesellschaft. Viele streben einem Ideal nach, anstatt sich selbst und seinen individuellen Weg zu finden. Da hat ein Kind, sagen wir es mal ganz brutal, mit einem angeborenen Defizit keinen Platz. Das trauen sich auch viele nicht zu. Leider verpassen sie dabei, was das Leben alles für schöne Erlebnisse bereit hält.

Was kann man einer Frau sagen, die ein Kind mit Down-Syndrom erwartet?
Trau dich, du wirst belohnt und wir unterstützen dich.
Was würden Sie sich zum Welt-Down-Syndrom-Tag wünschen?
Ich wünsche mir am 20. und 21. März inspirierende Veranstaltungen. Es sind insgesamt fast 400 Leute aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen zu unseren Veranstaltungen angemeldet. Im Idealfall passiert viel Erfahrungsaustausch, es wird genetzwerkt , gestaunt, gelacht und getanzt. Und ganz nebenbei spüren alle, wie unglaublich viel schöner es ist, wenn Menschen mit Down-Syndrom dabei sind.
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