Ein seltsames Land und seine Identitätssuche

Wer sind die Vorarlberger? Und sind sie weltoffen und weitblickend oder verstecken sie sich „hinter ihrem Arlberg, hinter Zäunen und ihrer Mundart“?
Was ist ein Vorarlberger? Die kürzesten Fragen sind oft die schwersten. Ein Österreicher, der seinen Hauptwohnsitz in Vorarlberg hat – sagt die Verfassung. Ein „köriger“, „doiger“, „fließiger“ Kerle, könnte der Volksmund antworten. Beides schließt viele ein und andere aus, die das vielleicht nicht so sehen. Und was ist der Vorarlberger außerdem noch? Österreicher, Europäer oder gar Bregenzerwälder?
Identität ist ein schwieriges Pflaster, und das Recht selten das beste Schuhwerk, um sich darauf zu bewegen. Es ist aber oft ein gutes Mittel, um die Auswüchse von Identitätspolitik abzufedern. Im Jahr 1961 erging ein Erlass des damaligen Landesamtsdirektors Elmar Grabherr an die Dienststellen des Landes. Er empfand die Legaldefinition des Vorarlbergers als Hauptwohnsitzler als „höchst unbefriedigend“ und foderte die Behördenleiter auf, bei Beföderungen auf die „landsmannschaftliche Herkunft“ der Bewerber zu achten. Zu deren Feststellung sollte man auf „objektive Tatsachen wie Abstammung (siehe hier unter anderem auch Familiennamen), Geburtsort, einem Besitz des Heimatrechtes, langjähriger Aufenthalt, Beherrschung der Mundart usw.“ achten. Dass das alles verfassungswidrig war, störte Grabherr nicht. Der Historiker Peter Melichar ortet im sogenannten Alemannenerlass, den Landeshauptmann Ulrich Ilg bereits 1964 verschwinden ließ, „eine Abwehrmaßnahme gegen Fremde mit juristischen Mitteln“.
„Nirgendwo habe ich mehr Zäune gesehen als im Vorarlberger Land.“
Neues Österreich, 1947
Wo sind die echten Vorarlberger?
Grabherr gelang es also nicht, eine nachhaltige, auf ethnischen Grundsätzen basierende rechtliche Definition des „echten Vorarlbergers“ zu schaffen. Er war aber nicht der Erste, der die Landesidentität instrumentalisierte. Bereits im Streit um einen möglichen Anschluss an die Schweiz nach dem Ersten Weltkrieg wurde von beiden Seiten mit Ausgrenzung operiert. Jeder echte Vorarlberger fühle in sich „Schweizer Blut“, erklärte etwa das christlichsoziale „Vorarlberger Volksblatt“ 1920, woraufhin das „Vorarlberger Tagblatt“, das für den Anschluss an Deutschland eintrat, heftig widersprach.
Wohin sich der „echte Vorarlberger“ zugehörig fühlen sollte, war deutlichen Schwankungen unterworfen. Je nach Epoche und ideologischer Ausrichtung war man einmal Deutscher oder Schweizer, dann wieder Österreicher – die „echte Vorarlbergerin“ scherte damals niemanden.
Zwei Mal unterschrieben
Zumindest was die ideologische Flexibilität betrifft, waren die Vorarlberger aber schon immer echte Österreicher. Die Treue „zum alten Kaiser“ wurde nach dem Untergang der Monarchie aus der Landeshymne gestrichen und durch jene „zum Heimatlande“ ersetzt. Als Ex-Kaiserin Zita aber nach ihrer Landesverweisung 1982 erstmals wieder einreisen durfte, ließ man sie mit demselben Füller ins Ehrenbuch der Stadt Bregenz schreiben, den sie bei ihrem letzten offiziellen Besuch 1917 verwendet hatte. In etwa so konsistent wie die Haltung Vorarlbergs zu Staatszugehörigkeit und Staatsform ist die Diskussion um den Vorarlberger Landespatron, den man 1772 in weiten Teilen des heutigen Österreich mit dem Heiligen Josef besetzt hatte. Dass der Stiefvater Christi im Land keine sonderlich große Verehrung genoss, störte damals wie heute nicht. Versuche, die Heiligen Fidelis oder Gebhard zu installieren, blieben erfolglos. Fidelis brachte es zumindest zum Diözesanpatron. Und auch er wirkte zwar in Feldkirch, wo sich heute noch sein Kopf befindet, stammte aber aus Sigmaringen und starb in Graubünden. Elmar Grabherr hätte mit dem Heiligen als Bezirkshauptmann wohl keine Freude gehabt.
Kein Landespatron
Dass der 19. März überhaupt ein Landesfeiertag ist, lässt sich wie der „echte Vorarlberger“ auch eher emotional als juristisch verorten. Ein eigenes Gesetz gibt es nicht. Auch der Heilige Josef findet nirgendwo rechtliche Erwähnung. In Landesgesetzen, die amts- und schulfreie Tage regeln, werden lapidar „die Sonntage, der 19. März, 1. Mai, Christi Himmelfahrt …“ genannt.
Eine ähnlich halbseidene Geschichte ist das Landeswappen. Über dieses heißt es in der Landesverfassung, es sei „das Montfortische rote Banner auf silbernem Schilde“. Allerdings handelt es sich beim Wappen um kein Banner, sondern um eine Kirchenfahne. Auch der Arlberg ist bekanntlich kein Berg, sondern nur ein Pass.
Das Selbstbild der Vorarlberger hat unter solchen Widersprüchen kaum gelitten. Man fand und findet sich in der Regel selbst sehr gut. „In Hinsicht auf geistige Entwicklung und Bildung dürfte das vorarlbergische Volk bei seinen günstigen Verhältnissen kaum von dem irgend eines österreichischen Kronlandes übertroffen werden“, gab sich etwa der Historiker Joseph Bergmann im Jahr 1868 zuversichtlich. Und wem sollte man glauben, wenn nicht dem „Vater aller Vorarlberger“, der die Grundlagen für die heimische Geschichtsschreibung schuf? Die Aussage habe schon damals „in krassem Widerspruch zu den heutigen Erkenntnissen über die damaligen Schulverhältnisse“ gestanden, meint der Politikwissenschafter Markus Barnay in „Die Erfindung des Vorarlbergers“. Identitätspolitik hat auch heute noch mehr mit Glauben als Wissen zu tun.
„Ein echter Vorarlberger wird seinen Stopfer einem Wiener Schnitzel vorziehen.“
Neues Wiener Tagblatt, 1936
Ebenso unkritisch fiel und fällt oft die Außensicht auf das Ländle aus. Darüber, was Vorarlberger zu sein und zu tun haben, gab es meist bewundernde bis verniedlichende Ansichten: „Wache, rege Leute“ seien sie, so eine Wiener Zeitung 1869. Auf manche im fernen Osten wirkte das Ländle wie eine exotische Kolonie. Das „Neue Wiener Tagblatt“ veröffentlichte 1936 einen Beitrag mit dem Titel: „Die Entdeckung Vorarlbergs“. Demnach saß damals jede Vorarlberger Familie morgends und abends „um die Schüssel und löffelt Stopfer und Kaffee“.
Der Blick aus dem Osten über den Arlberg war meist wohlwollender als jener in die andere Richtung. Fleißig, bedächtig, wirtschaftlich denkend seien die Vorarlberger, hieß es immer wieder. Einen Beobachter des Jahres 1947 erstaunten jedoch die vielen Zäune: „So sauber und satt wie die Landschaft sind auch die Menschen, die sie bewohnen. Und ebenso mißtrauisch und ein bißchen abweisend“, meinte Friedrich Lorenz, der Chefredakteur des „Neuen Österreich“ nach einem Besuch. Die Stimmung zwischen Wien und dem Westen litt kurz nach dem Krieg unter schleppenden Lebensmittellieferungen.
Lorenz erkannte aber, dass Identität nicht nur Chauvinismus, sondern auch Sicherheit bietet: „Es ist, als versteckten die Vorarlberger sich hinter ihrem Arlberg, hinter Zäunen und ihrer Mundart vor dem übrigen Österreich.“ Wer das Ländle bereise, müsse es zwar liebgewinnen. Es gebe bekanntlich aber auch „unglückliche Liebe“.
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