Es gibt immer was zu verändern – neben dem Hunger

Heidi Salmhofer mit ihrer Kolumne in der NEUE am Sonntag.
Im Vorarlberger Volksblatt von 19. Mai 1912 lässt sich ein Artikel zu Frauen in der Politik lesen. Nicht besonders begeistert zeigt sich der Verfasser dessen über die Demonstration der damaligen Sozialdemokratinnen in Wien, die für ihn „ebenso wenig geschmackvoll war, als die Veranstalterinnen graziös waren“, und dann steht da noch: „Uns fehlen ganz andere Dinge als Wahlreformen …“ Dieser Sager entspricht in etwa dem heutigen Argument „Es gibt ganz andere Probleme!“. Würden jene die sich in Teilbereichen unseres Lebens für Veränderungen einsetzen, auf dieses hören und sagen „Oha, stimmt!“, wo wären wir da heute? „Die römischen Arenen sind barbarisch, wir müssen aufhören, Menschen abzuschlachten!“ – „Mann, was soll das, wir haben wirklich wichtigere Probleme!“ – „Die Sklaverei ist menschenverachtend!“ – „Sei still, es gibt Notwendigeres zu lösen!“
Es stimmt: Es gibt immer noch andere Probleme. Irgendwo. Es gibt weiterhin Armut, es gibt weiterhin Hunger, es gibt weiterhin Korruption und es gibt weiterhin eine ungerechte Aufteilung des Vermögens. Aber nichts von all dem wird sich jemals ändern, wenn Weiterentwicklung nicht auch auf anderen Ebenen stattfindet. Wenn sogenannte kleine „Ungerechtigkeiten“ bestehen bleiben dürfen, werden die tatsächlich großen wohl nie vergehen. Ich bin froh, dass „die wichtigeren Probleme“ keine wirkliche Rechtfertigung zur Beendigung von Veränderungsbewegungen sind. Hui, man stelle sich vor, was das sonst für meinen kleinen Haushalt bedeuten würde. „Mädels, räumt bitte im Anschluss die Küche auf, danke“ – „Mama, es gibt andere Probleme als eine schmutzige Küche. Wir haben noch immer keinen Weltfrieden!“ – „Shit. Stimmt.“ Ich wäre wirklich ziemlich aufgeschmissen. Nix wäre erledigt, nix ging im Hause Salmhofer weiter.
Manchmal ist so ein Blick in alte Zeitungen nicht schlecht, weil er uns zeigt, wie man vor gar nicht allzu langer Zeit gedacht und diese Gedanken formuliert hat. Für uns heute sehr befremdlich, was damals noch total normal war. Manchmal muss man gar nicht so weit zurückgehen. In den 60er-Jahren gab es Werbung, in der man eine Ente untergehen ließ, um zu zeigen, dass ein Waschmittel den Härtegrad des Wassers ändert, in Shows rauchte Dean Martin fleissig vor sich hin und Frauen wurde in Nachrichten das Vermögen abgesprochen, ein Auto zu lenken. Und es gab Menschen, die setzten sich hier für Veränderung ein. Den Hunger auf Erden haben wir noch nicht besiegt, aber es geschafft, dass Menschen gesünder sind, Tiere respektvoller behandelt werden und Frauen jetzt besser Autofahren als Männer. Zwinker.
Heidi Salmhofer ist freiberufliche Theatermacherin und Journalistin. Sie lebt mit ihren Töchtern in Hohenems.
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