Wenn junge Männer nicht mehr singen wollen

Besonders Männerchöre haben ein Nachwuchsproblem. Wie wollen sie es lösen?
Von den 105 Chören, die Mitglied im Vorarlberger Chorverband sind, sind rund die Hälfte, nämlich 56, gemischte Chöre aus Männern und Frauen. 20 Chöre sind außerschulische Kinderchöre, gerade sechs sind reine Frauenchöre, und 23 sind Männerchöre. Die Pandemie hat viele soziale Vereinsstrukturen brüchiger werden lassen.
Es gibt aber wohl kaum Vereine, bei denen das stärker zum Tragen kommt als bei Chören. Sie durften lange nicht singen – oder nur mit absurdem Abstand und Maske –, von Auftritten ganz zu schweigen. Insbesondere Männerchöre hatten es schon vorher schwer, Nachwuchs an Land zu ziehen. Mit Corona sind auch bei ihnen Mitglieder weggebrochen. Eine junge Basis, auf die die Zukunft gestellt werden kann, fehlt weitgehend. Woran liegt das? Eine Spurensuche.
“Sing mit!”
An Aktionen für den umworbenen Nachwuchs fehlt es kaum. Der Chorverband hat zum Beispiel die Mitmachinitiative „Sing mit!“ für Acht- bis Vierzehnjährige gestartet. Aufwendig war das, 17 Lieder hat man extra für die entsprechenden Stimmen arrangieren lassen. Für die Aufführung des Ergebnisses wurde eigens die Cashpoint-Arena in Altach reserviert, da man mit 1500 Kindern und Jugendlichen rechnete, die die Arrangements in der Zwischenzeit einstudiert hatten. Letztendlich wurden es 2200, das Publikum war entsprechend zahlreich, und Axel Girardelli, Obmann des Chorverbands, ist sichtlich stolz darauf, somit einen Stau auf der Autobahn hervorgerufen zu haben. Ein Riesenaufwand. Doch was ist der Ertrag? Hier wird auch Girardelli nachdenklich. „Es ist nicht so wichtig, in welchen Chören sie singen, Hauptsache, sie singen“, sagt er. „Die Begeisterung ist der richtige Ansatz.“

Doch wie zusammen mit der Begeisterung die Nachwuchssänger in die Chöre, in die Männerchöre bringen? „Die Jungen gehen weg zum Studium. Und wenn sie zurückkommen, sind sie beschäftigt mit Hausbau, Familie, Job. Es geht um eine gute Work-Life-Balance. Chor wird von vielen als Verpflichtung, als ,Arbeit‘ gesehen. Ich sehe das als Menü, wo man erst weiß, wie’s schmeckt, wenn man probiert hat“, sagt Girardelli.

So wie Gerd Loacker, seit 1990 aktiver Sänger, seit 2000 Obmann des Männerchors Götzis. Er singt drei Mal die Woche: Montags und donnerstags im Kammerchor Vokale und dienstags im Männerchor Götzis. „Ich habe in meinem Beruf über 200 Mitarbeiter geführt. Singen war für mich ein Elixier gegen den Stress. Lossingen, und alles andere ist vergessen“, sagt Loacker. Seiner Meinung nach ist Singen auch ein Elixier gegen Alterskrankheiten.

„Seit 1990 habe ich mitbekommen, wie es unseren Sängern ergangen ist. Kein Schlaganfall, keine Altersdemenz. Allein durch die Atemtechnik wird ja alles durchblutet. Durch die Beschäftigung mit der Gesangsliteratur, das Singen im Plenum, bleibst du geistig wach“, erklärt Loacker, um hinzuzufügen: „Aber das kannst du potenziellen Interessenten trotzdem irgendwie nicht schmackhaft machen.“ Vielleicht, weil für sie Altersdemenz weiter weg und Bauen näher dran ist? Der Männerchor Götzis hat sich unter anderem marketingtechnisch viel einfallen lassen: Postkarten mit verschiedenen Sujets, zum Beispiel einem inbrünstig unter der Dusche singenden Mann aus dem Männerchor mit dem Satz „Komm zu uns! Wir fördern dein Talent!“, oder einem Mann mit grüner Mütze und künstlicher Blume darauf, die er gießt: „Beim Singen wachse ich über mich hinaus!“
“Einmalig in Österreich”
Der Altersdurchschnitt des Männerchors Götzis ist in den vergangenen zehn Jahren gestiegen, und zwar von 53,1 Jahren im Jahr 2011 auf 59 Jahre im Jahr 2021. Dabei legt man sich ordentlich ins Zeug, gesungen werden längst auch weltliche Werke und Musik mit Publikumswirkung. „Was wir aufführen, ist einmalig in Österreich“, freut sich Loacker. Zugleich bemerkt er, dass Männerchöre, die sich, stolz auf die Tradition pochend, „Männergesangsverein seit 1878“ nennen, vielleicht nicht mehr am Zahn der Zeit und attraktiv für Jüngere sind. Attraktiver für junge Männer sind offensichtlich Projektchöre, wo sie sich nicht für längere Zeit binden müssen. „Im Landesjugendchor zum Beispiel sind viele junge Männer. Sie studieren zum Beispiel in Graz oder Innsbruck und sind immer nur am Wochenende im Ländle. Das ist für einen normalen Chor ein No-go.“

Der Männerchor ist durchaus ein Klub, in dem die Männer unter sich sein können. „Man kann musizieren, Bekannte treffen, auf der Bühne stehen“, zählt Loacker auf. „Man kehrt regelmäßig miteinander ein und interessiert sich beispielsweise auch für den, der immer in der Probe neben einem sitzt und singt“, sagt Loacker. Eine eingeschworene Gemeinschaft, der es am Wichtigsten mangelt, das sie braucht, um bestehen zu können: Nachwuchs.
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