Natur als Spiegel der Seele

Susanne Türtscher spricht über die Heilwirkung von Frühlingskräutern, über ihr eigenes Naturerleben und das uralte Naturwissen, das uns verlorengegangen ist.
Dass dem Ende des Großen Walsertals der Zauber eines Neubeginns innewohnt, davon kann sich überzeugen, wer Susanne Türtscher in Buchboden besucht. Dabei wird die gut ausgebaute Landstraße zur Wohnstraße und hört schließlich bei der „Mühle“ auf: Hier arbeitet die Kräuterpädagogin und Naturweise, gibt Seminare und begleitet Menschen auf ihrer spirituellen Suche in der Wildnis. Einen alten Stall hat sie behutsam in einen mit seiner Aussicht überwältigenden Kraftort verwandelt. Wer hierher zum Seminar kommt, darf diese Luft atmen, den wilden Bergbach, die Lutz schäumen hören, die Vögel ziehen sehen und die Magie des In-sich-Ankommens spüren. Jetzt ist Frühling – an diesem 21. März war just der erste Tag im astrologischen Kalender. Neues Leben drängt mit Macht zur Sonne hin. Wir alle gehen über die Schwelle zwischen Winter und Frühling. In Überlieferungen aus alten Kulturen trägt der Sonnenkönig zunächst noch ein Bärenfell. Am ersten Mai feiern Himmel und Erde dann Hochzeit, und die Erdgöttin beschwört alle Wesen, ihrem König kein Leid anzutun, erzählt Türtscher.
Kräutervitalität
Kräuter brechen aus der Winterstarre empor, das Eis bricht, alles beginnt zu fließen. Erste Frühlingskräuter tun in ihrer Vitalität auch uns gut. Mit der Widderkraft bricht etwa der Huflattich auf dem Sträßchen zur Mühle den Asphalt auf. Türtscher blickt auf das sonnengleiche Blümchen. „Das ist die Sonne, die uns von der Erde her anstrahlt. Man kann die Blüten über den Salat streuen oder aufs Butterbrot. Die reichlich enthaltenen Flavonoide wirken stimmungsaufhellend.“ Ein Zugang zur Natur bedeutet auch einen Zugang zu den Gaben der Natur. Diesen Zugang kann man nicht lernen wie eine Sprache, man braucht jemanden, der einen führt, bis man diese Ebene der Kommunikation mit der Natur verinnerlicht hat, sagt Türtscher. Aus dem gesammelten Huflattich setzt sie – auch für ihre neun Enkelkinder – einen Hustensirup an. Die Huflattichblüten übergießt sie mit Honig und reichert sie im Lauf des Jahres mit Spitzwegerich, Tannenwipfelchen, Quendel und Majoran an. Dann stellt die Kräuterpädagogin den Topf schließlich in ein Erdloch, und im Herbst erwärmt sie ihn und seiht die Flüssigkeit ab. Wer es einfacher will, macht aus den Blättchen einen Tee.
Bärlauch mit Butter

Auch der Bärlauch streckt schon seine Spitzen aus der Erde und streift das Buchenlaub ab. Man kann Butter schaumig schlagen und ganz fein geschnittene Bärlauchblätter sowie etwas Kräutersalz hinzugeben. Am besten gleich portionieren und einfrieren. Unter Nudeln gemischt, ergibt das jeweils ein schmackhaftes und gesundes Essen. „Bärlauch ist ein Blutreiniger und wertvoll für den Kreislauf bei zu hohem und zu niedrigem Blutdruck. Er stärkt und schenkt ,Bärenkräfte‘“, sagt Türtscher. Dann erzählt sie von ihrem morgendlichen Schwellengang. Sie habe von schrecklichen Naturkatastrophen geträumt und nach dem Aufwachen einen Spaziergang gemacht, um den Traum für sich einzuordnen. „Man stellt der Natur eine Frage und öffnet sich für die Antwort, die einem draußen begegnen will“, erklärt Türtscher den Schwellengang. Die Schwelle kann auch eine Brücke oder ein Torbogen aus Zweigen sein. „Mir hat sich das Buschwindröschen gezeigt. Es hat im Wind gezittert. Ich bin heute zittrig, muss langsam machen, war die erste Botschaft. Aber die zweite war: Im Innersten bleiben wir immer heil und ganz, unser Seelengrund bleibt unantastbar.“ Das Buschwindröschen kann nicht gegessen werden, es ist eine Medizinpflanze mit Symbolcharakter.
Gesunde Kresse
Später begegnet ihr wild wachsende Kresse. „Sie enthält ein Antibiotikum und ist gut gegen Erkältungen.“ Das Gänseblümchen wenige Meter weiter richtet sich stets wieder auf, wenn es niedergedrückt wird. Zusammen mit Veilchen entsteht aus ihm ein Hautbalsam, der zum Beispiel bei Neurodermitis helfen soll. „Wir in unserer Zivilisation haben nur noch linear gedacht, an Wirtschaftswachstum um fast jeden Preis. Das Medizinrad, der Lauf der Jahreszeiten begreift sich jedoch als Kreislauf. Wir entfalten uns, eine Idee kommt zur Blüte, wir geben etwas weiter, wir verabschieden jemanden und sterben auch selbst – in etwas Neues hinein“, sagt Türtscher. Wer der Natur bewusst begegnet, aufrichtig vor ihr steht und sich öffnet, wird Wahrheiten finden, die weit über das meditative Wildkräuter-Sammeln hinausgehen.
Weitere Infos: www.susanne-tuertscher.at
Schon gewusst?
Woher der Bärlauch seinen Namen hat, weiß heute niemand mehr genau. Angeblich fressen Bären die Pflanze nach dem Winterschlaf. Die Bezeichnung leitet sich vom lateinischen Namen Allium ursinum ab, die schon Plinius der Ältere (23/24-79) verwendete.
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