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Ein digitaler Tsunami am Jobmarkt

30.04.2023 • 13:01 Uhr / 9 Minuten Lesezeit
Ein digitaler Tsunami am Jobmarkt
Denn Studien gehen von markanten Änderungen in unserem Arbeitsleben aus. Welche das sind und wo der Mensch dennoch klar im Vorteil ist.(C) TOBIAS – STOCK.ADOBE.COM

Seit dem Start von ChatGPT ist Künstliche Intelligenz allgegenwärtig. Auch am 1. Mai, dem Tag der Arbeit.

“Es ist eine frühe Demo von dem, was möglich ist. Aber noch immer mit vielen Limitierungen. Es ist mehr eine Freigabe für die Forschung” – Enthusiasmus sucht man bei Sam Altman am 30. November 2022 vergeblich. Zurückhaltung, Vorsicht und Zweifel liest man eher aus den Nachrichten des OpenAI-Chefs heraus. Dabei geschieht zur selben Zeit Historisches: Eine auf Künstlicher Intelligenz basierende Anwendung begeistert die Massen. Quer über den Globus, in atemberaubendem Tempo.

Nur fünf Tage nach dem Start nutzen eine Million Menschen den Chatbot ChatGPT, der auf so gut wie alle Fragen plausible Antworten gibt. Nicht immer sind sie inhaltlich korrekt. Aber das stört zunächst nur wenige. Im Jänner 2023 überspringt ChatGPT die Marke von 100 Millionen User. Noch nie wuchs eine digitale Anwendung so schnell.

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Gigantisches globales Wettrennen

Zugleich löst der Erfolg ein gigantisches Wettrennen aus. Waren es früher einmal Universitäten, die die Technologie vorantrieben, übernehmen jetzt endgültig die großen Tech-Unternehmen. 2022 zählt der AI Index Report 35 bedeutende Modelle für maschinelles Lernen. 32 sind von Unternehmen und nur drei von Forschungseinrichtungen. Egal ob Microsoft, Google oder Chinas Baidu. Sie alle kündigen umgehend an, weitere Milliarden an US-Dollar in die Entwicklung zu stecken. „KI verändert das Leben massiver als Feuer und Elektrizität“, prophezeit Google-Boss Sundar Pichai.

„Die ersten Sprachlernmodelle von OpenAI haben wir nachgebaut und sogar verbessert“, erinnert sich Sepp Hochreiter ein paar Jahre zurück. „Jetzt haben wir keine Chance mehr“, meint der gebürtige Bayer, der heute in Linz lehrt und als wissenschaftlicher Vorreiter gilt. Zu groß und teuer seien die benötigten Rechenkapazitäten, zu hoch die Zahl von benötigtem Personal, das in der frühen Lernphase einer KI Rückmeldungen gibt.

„Tsunami, der vieles auf den Kopf stellt“

Die Auswirkungen dieser kaum fassbaren KI-Offensive sind freilich noch schwer abzuschätzen. Dass sie das tägliche Arbeiten vieler Menschen massiv beeinflussen wird, scheint unumstößlich. Der norwegische Wirtschaftsphilosoph Anders Indset spricht im Gespräch mit der Kleinen Zeitung jedenfalls von einem „Tsunami, der vieles auf den Kopf stellt“. Er verweist insbesondere auf eine der fundamentalen Veränderungen in der Debatte um Digitalisierung, Automatisierung und ihre Auswirkungen auf Jobprofile und Arbeitsplätze. „Das Narrativ war ja immer, dass Roboter und Künstliche Intelligenz die physische Kraft ersetzen und sich der Mensch auf das Wesentliche konzentrieren kann und dass Experten immer wichtiger werden.“ Nun stelle sich heraus: Diese Technologie greift nicht mechanische Tätigkeiten, Handwerksberufe oder Billigjobs an. Sie kann in verschiedenen Bereichen Expertentum – u. a. in Kreativbereichen, der Wissenschaft oder juristischen Welt – verändern und teilweise ersetzen.

Zwischen ergänzen und ersetzen

Wir haben es also mit einem – potenziell – radikalen Wandel der Arbeitswelt zu tun. Dass die Revolution, die durch die Künstliche Intelligenz ausgelöst wird, Arbeitsinhalte und damit Berufsbilder von Grund auf umkrempelt, steht außer Streit. Welche Jobprofile sie ergänzen, welche ersetzen wird, steht vielfach aber noch in den Sternen. Experten wie Hinrich Schütze von der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) vergleichen die disruptive Wirkung der KI mit jener des Smartphones oder des Internets. Vor allem dort, wo es um Erfassung, Strukturierung und Auswertung von Daten geht, ist uns die KI schon jetzt meist meilenweit überlegen. Ob wir etwas schreiben oder programmieren – an KI wird vielfach kein Weg mehr vorbeiführen, sind sich Experten einig. Bei Berufen, in denen es darum geht, Zusammenfassungen zu schreiben, Wissen zu sammeln und zu verdichten, ist die KI deutlich im Vorteil.

Zwei jüngst veröffentlichte Studien beschäftigen sich mit den Folgen der KI im Detail. Die Investmentbank Goldman Sachs kam laut einer Untersuchung ihrer Forschungsabteilung zum Schluss, dass auf den Arbeitsmarkt „erhebliche Störungen“ zukämen. Zwei Drittel der Arbeitsplätze seien durch KI-Automatisierung betroffen, jeder vierte Job könne ersetzt werden. Hochgeschätzt könnte generative KI weltweit rund 300 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen der Automatisierung zum Opfer fallen, heißt es. Zugleich findet sich in der Goldman-Studie ein weiterer essenzieller Aspekt: Die Experten gehen davon aus, dass geschickt eingesetzte KI für ein deutliches Wirtschaftswachstum sorgen kann. Damit würde wiederum ein Mehr an zusätzlicher Beschäftigung einhergehen.

Welche Berufsgruppen unter Druck geraten könnten

Auf welche Berufsgruppen sich ChatGPT – der populäre Chatbot – am stärksten auswirkt, untersuchte OpenAI gemeinsam mit Wissenschaftern der University of Pennsylvania. Besonders von generativer künstlicher Intelligenz betroffen sind demnach Buchhalter, mindestens die Hälfte der Aufgaben könnte mit der neuen Technologie viel schneller (und günstiger) erledigt werden. Unter „generativer KI“ versteht man Programme, die neue Inhalte oder Lösungen erstellen können.

Aber auch die Arbeit von Dolmetscherinnen oder Mathematiker, Schriftstellerinen oder Programmierern sowie Journalistinnen könnte sich stark ändern. Die Fähigkeiten der KI-Systeme zu übersetzen, einzuordnen, kreativ zu schreiben und Codes zu generieren sind bereits beachtlich, schreiben die Autoren der Studie.

Wo KI schwächelt, könnten Roboter Vorteile ausspielen

Aber auch darüber hinaus wird es kaum einen Arbeitsplatz geben, der durch KI-Sprachmodelle nicht verändert wird. Acht von zehn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den USA sind in Berufen tätig, in denen zumindest eine Aufgabe durch generative KI schneller erledigt werden könne, so die Forscher. Demgegenüber gibt es nur einige (wenige) Jobs, in denen die KI kaum eine Rolle spielen wird. Bei Köchen etwa, Kfz-Mechanikern und in der Land- und Forstwirtschaft.

Allerdings trägt nicht nur die KI, dazu bei, Berufe zum Verschwinden zu bringen. Wo die KI schwächelt, könnten Roboter ihre Vorteile ausspielen. Der „Automatisierungs-Risiko-Index“ berechnet jenen Anteil der für einen Beruf notwendigen Fähigkeiten, die ein Roboter oder eine Künstliche Intelligenz bereits beherrscht. Physiker, Chirurgen, Ärzte, Ingenieure, aber auch Piloten und Fluglotsen sind demnach relativ sicher. Gefährdete Berufe sind Fleischverarbeiter, Kassierer, Tellerwäscher, Taxifahrer und sogar Models. Eher selten auf der Liste gefährdeter Berufe findet sich noch der des CEO. Zu Unrecht, wie eine Gamingfirma aus Hongkong zeigt. Die strategischen Entscheidungen der zwei Milliarden Euro Umsatz schweren Netdragon Websoft trifft seit August Tang Yu, eine KI. Seither ist der Börsenwert des Unternehmens kräftig gestiegen. Berechnet man ein, dass ein CEO in den USA so viel verdient wie 400 Beschäftigte, wüsste die KI im Vorstandsbüro also wohl, was zu tun wäre.

Handfeste Vorteile menschlicher Intelligenz

Für nicht wenige klingt es geradezu dystopisch, würden nicht nur Unternehmen von einer KI geführt, sondern etwa Gerichtsurteile nicht durch einen Menschen, sondern durch Maschinen gefällt oder Diagnosen nicht von menschlichen Ärzten, sondern von Künstlicher Intelligenz getroffen. Zwischen „Unterstützung“ und „Ersatz“ durch KI ist folglich ein haushoher Unterschied. Dazu kommen ethische Überlegungen und zunehmend lauter werdende Warnungen vor den Risiken, die von der KI ausgehen.

Letztlich gibt es auch ganz handfeste Vorteile menschlicher Intelligenz gegenüber künstlicher: Menschen lösen Probleme kreativ und intuitiv, ihre Intelligenz kann sich durch Training verbessern; Menschen sind flexibel und haben Vorteile in der Kommunikation, auch Vertrauen ist ein zutiefst humaner Wert. Und ob KI auch je Empathie so wie (die meisten) Menschen beherrschen wird, ist fraglich.

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