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Wie mächtig ist Wladimir Putin noch?

30.04.2023 • 16:20 Uhr / 8 Minuten Lesezeit
Wladimir Putin: krank und machtlos?
Die Leaks von US-Geheimdienstdokumenten werfen einmal mehr die Frage nach der Gesundheit des russischen Präsidenten auf. (c) AP (Oleg Varov)

Wie fest sitzt Putin im Sattel, was muss er am meisten fürchten? Und nicht zuletzt: Wie gesund ist er?

Die Welt des Wladimir Putin ist ein Vexierspiel aus Andeutungen, Mythen, Irreführungen, unscheinbaren Details und scheinbaren Sicherheiten. Enthüllungen über Putins Machtzirkel sind dabei mit Vorsicht zu genießen, stets gilt die Prämisse: Sicher ist nur, dass nichts mit Sicherheit gesagt werden kann. Wer sich in die erste Reihe stellt und scheinbare Selbstverständlichkeiten herausposaunt, macht sich verdächtig.

Ein Wunder russischer Machtzirkel

Und doch markiert die jüngste Veröffentlichung von US-Geheimdienstdokumenten eine Art Zäsur. Der Leak eines 21-jährigen Halbstarken des US-Militärs, der mit den sensiblen Daten im Internet für digitalen Ruhm hausieren ging, ist nämlich nicht nur für die USA eine sicherheitspolitische Blamage. Auch Russland kommt in den Veröffentlichungen nicht gut weg. So richten die Leaks den Blick auf ein diffuses, aufgescheuertes, russisches Machtsystem.

Nach Berichten der “New York Times”, die sich auf die Dokumente beruft, sei der Machtkampf innerhalb des Kremls weitreichender als bisher angenommen. Die beiden mächtigsten Flügel des russischen Machtsystems – der Inlandsgeheimdienst FSB auf der einen Seite, der Militärstab auf der anderen – seien zerstritten. Der FSB werfe dem Militär die Übermittlung falscher Opferzahlen im Krieg vor. Noch brisanter: Zwischen Jewgeni Prigoschin, Chef der Wagner-Söldner, und Verteidigungsminister Sergei Schoigu sei ein Streit entbrannt, den Wladimir Putin höchstpersönlich schlichten musste. Das Treffen dafür soll am 22. Februar stattgefunden haben. Lässt sich aus dem kolportierten Disput herauslesen, dass Putin die Macht entgleitet, er gar die Kontrolle verliert?

Rivalität aus Kalkül

Nicht wirklich. Vielmehr läuft für Putin damit sogar alles in geordneten Bahnen. Konkurrierende Sicherheitsapparate, Unstimmigkeiten in der Ausführung seien Teil von Putins Taktik. “Putins Macht bröckelt nicht, zumindest nicht dort, wo es drauf ankommt”, so Russland-Experte Gerhard Mangott, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck. “Es ist im Sinne eines autoritären Herrschers, dass er keine Fraktion zu stark werden lässt, dass die Fraktionen sich gegenseitig kontrollieren, dass sie rivalisieren”, so Mangott. Putin könne dadurch stets die Rolle des schlichtenden Führers einnehmen, die letzte Entscheidung liegt bei ihm.

Wie mächtig ist Wladimir Putin noch?
Russland-Experte Gerhard Mangott, Universität InnsbruckSonstiges

Die Lage wird für Putin deshalb aber nichtsdestotrotz schwerer. Zu mangelnden Erfolgen am Schlachtfeld – für die der Militärapparat zuständig wäre – kommen seit einiger Zeit empfindliche Niederlagen im Inneren hinzu –, die der Inlandsgeheimdienst FSB eigentlich vereiteln sollte. So war der FSB gleich dreimal nicht in der Lage gewesen, Anschläge im eigenen Land zu verhindern. Ob bei der detonierten Autobombe auf die putinnahe Journalistin Daria Dugina, bei der Bombe auf der Krim-Brücke oder zuletzt beim Mordanschlag auf den Militärblogger Maxim Fomin. Für Putin, dem notorische Angst vor Erkrankungen, eine Vorliebe für Doppelgänger und ein Kontrollwahn nachgesagt werden, ein Desaster.

Zuletzt wurde auch der traditionelle Gedenkmarsch “Unsterbliches Regiment” am “Tag des Sieges” am 9. Mai zur Erinnerung an sowjetische Soldaten im Zweiten Weltkrieg abgesagt. Anstelle des sonst in Moskau und vielen anderen Städten organisierten Umzugs mit Hunderttausenden Teilnehmern sollten sich die Menschen die Fotos ihrer toten Angehörigen in diesem Jahr lieber ans Autofenster kleben oder an die Kleidung heften, ließ der Kreml wissen. Hintergrund für die Absage ist laut Experten zum einen das Sicherheitsrisiko, zum anderen, dass Teilnehmer an die im Ukraine-Krieg gefallenen Soldaten erinnern könnten. “Es soll nicht sichtbar werden, wie viele russische Soldaten in diesem Krieg schon gefallen sind”, meint Mangott.

Putins Krankheit

Doch rücken die US-Leaks eine weitere, wiederkehrende Frage ins Licht. Wie steht es um den Gesundheitszustand des russischen Präsidenten? Besonders nachdrücklich wird diese Diskussion seit dem Einmarsch in die Ukraine geführt. Vorwiegend auf Social Media, vermutlich auch aus der Notwendigkeit heraus, Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende aufkommen zu lassen. Putin wirkt bisweilen nervös, schwach, aufgedunsen. Putin leide an Parkinson, an Krebs, so Behauptungen in der Vergangenheit. Eine beiläufige Bemerkung in den US-Leaks soll die Krankheit Putins nun zum ersten Mal offiziell bestätigen. So soll der Generalstabschef Waleri Gerassimow im März versucht haben, ohne Putin darüber in Kenntnis zu setzen, Truppen in den Süden der Ukraine zu verlegen. Der Präsident hätte zu diesem Zeitpunkt eine “Chemotherapie beginnen” sollen.

Eine Bestätigung für die Gerüchte, die sich seit Jahren hartnäckig halten, sieht Russland-Experte Mangott darin nicht: “Natürlich kann es sein, dass Putin eine unheilbare Krankheit hat. Das wissen aber weiter nur seine Ärzte”. Für Mangott gibt es eine weitere, wesentliche Erklärung für die wiederkehrenden Vermutungen. Westliche Geheimdienste könnten versuchen, Unruhe in den Machteliten Russlands zu provozieren. “Die Fragen, die so aufkommen sollen, sind: Werde ich mein Vermögen behalten? Zähle ich zu den Verlierern eines Machtwechsels?”, erklärt Mangott.

Wann Putins Macht bröckeln könnte

Die traurige Wahrheit ist: Im Land der reichen Oligarchen regiert Geld, nicht die Welt. Die namhaften Wirtschaftsführer haben das Land verlassen. So zum Beispiel Anatoli Tschubais oder Michail Fridman. Laut Mangott seien viele Großunternehmer unglücklich über diesen Krieg. Einige würden hinter vorgehaltener Hand Kritik üben – auch aus eigennützigen Gründen, denn der Krieg schwächt ihre finanzielle Kraft. “Aber diese Figuren haben keine Macht, keinen Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung”, so Mangott.

Das Szenario, das Wladimir Putin tatsächlich gefährlich werden könnte, ist ein Verlust der Krim. Die ukrainische Halbinsel wurde 2014 annektiert. Sie hat für den Kreml einen historisch-symbolischen Wert, ist seit jeher Zankapfel zwischen Kiew und Moskau. Auch ist die Krim für Russland deshalb so wichtig, weil der dortige Hafen Sewastopol einer der wenigen eisfreien Häfen Russlands auf europäischer Seite ist. Und natürlich ist die Krim zum Inbegriff russischen Machterhalts geworden. “Sollte die Ukraine in der Lage sein, die Krim zu gefährden oder zu erobern, wäre der Verbleib Putins an der Macht unsicher”, attestiert Mangott. Eine Palastrevolte könnte die Folge sein. Eine Art Kopie von Putin, nämlich Nikolai Patruschew, Sekretär des Sicherheitsrates, könnte neuer russischer Präsident werden. Laut Mangott wäre er “der wahrscheinlichste Kandidat”. Patruschew und Putin sind in etwa gleich alt, beide in Leningrad geboren und waren beiden 1975 in den KGB eingetreten.

Der Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin, der zuletzt mit einem Blogeintrag über ein mögliches Kriegsende für Aufsehen sorgte, und Kriegskommandeur Waleri Gerassimow hingegen hätten keine realistische Chance, Putin nachzufolgen. “Prigoschin hat zu viele Feinde im Geheimdienst, Gerassimow ist nur mehr im Amt, weil Putin im Amt ist.”

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