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„Das Kind in den Fokus nehmen“

21.05.2023 • 23:00 Uhr / 8 Minuten Lesezeit
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Interview. Maria Veraar ist Primaria der Kinder- und Jugendpsychiatrie am LKH Rankweil.

Welche psychischen Erkrankungen kommen bei Kindern und Jugendlichen vor allem vor?
Maria Veraar: Kinder leiden an Angststörungen, depressiven Störungen und – vor allem Buben – an ADHS. Bei den Jugendlichen sehen wir viele Anpassungsstörungen. Das sind Störungsbilder, die durch Überforderung entstehen, etwa wenn die Anforderungen in der Schule zu hoch sind und Probleme mit den Eltern oder in Beziehungen hinzukommen. Anpassungsstörungen beinhalten unterschiedlichste Symp­tome, von depressiven Symp­tomen über selbstverletzendes Verhalten bis hin zu Suizidalität. Bei Jugendlichen können zudem depressive Erkrankungen, Persönlichkeitsstörungen wie Borderline oder Essstörungen auftreten. ­Essstörungen haben bei Mädchen sehr stark zugenommen, und sie beginnen in einem wesentlich früheren Alter als noch vor zehn Jahren. Die psychische Gesundheit hat sich nicht verbessert.

Das erkennt man auch daran, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie am LKH Rankweil zu 100 Prozent ausgelastet, teilweise auch überbelegt ist. Dies lässt sich aber nicht nur durch einen Anstieg psychischer Erkrankungen erklären?
Veraar: Schon vor der Pandemie waren das Angebot bei psychischen Erkrankungen und die Nachfrage nicht deckungsgleich. Früher waren die Krankheiten tabuisierter, jetzt sind die Eltern viel sensibler. Auch in den Kindergärten und Schulen gibt es diese Sensibilität, ebenso bei den Jugendlichen selbst. Die Hellhörigkeit und die Inanspruchnahme sind sehr gewachsen, das Angebot aber nicht.

Es gab aber auch einen realen Anstieg dieser Erkrankungen?
Veraar: Ja. Die Belastungen haben in einer Kontinuität mit Corona, der Ukraine und der Inflation zugenommen. Das ist nicht spurlos vorübergegangen. Zudem schwebt die Klimakrise wie ein Damoklesschwert über den Köpfen. Diese Perspektivlosigkeit macht den Kindern und Jugendlichen zu schaffen. Wenn man sagen könnte, wir machen das und das, und es geht gut aus, würde es für die jungen Menschen vielleicht entlastend wirken. Zudem hat in den vergangenen Jahren der Stress zugenommen, und das ist eine zusätzliche Belastung. Nicht jeder verfügt über den psychischen Apparat, gut mit Stress umgehen zu können.

Primaria Maria Veraar, die selbst zwei Kinder hat, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am LKH Rankweil <span class="copyright">hartinger</span>
Primaria Maria Veraar, die selbst zwei Kinder hat, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am LKH Rankweil hartinger

Weshalb ist Erwachsenwerden heute schwieriger als vor 30 Jahren?
Veraar: Das ist schwierig zu beantworten und spekulativ. Es gibt heute sehr viele Außenreize – diese ganzen medialen Angebote –, der Tag ist aber nicht länger geworden und man hat auch als Kind und Jugendlicher seine Aufgaben. Durch das permanente Online-sein-Müssen sind die Konzentration und die Fokussierung auf das Wesentliche schwieriger geworden. Hinzu kommt der gesellschaftliche Umbruch: Kinder und Jugendliche habe in der Regel kein Elternteil mehr zu Hause, es wird viel an Selbstorganisation verlangt.

Wie können Eltern präventiv einwirken?
Veraar: Präventiv heißt, den Fokus auf das Kind zu richten. Dass Eltern ihr Kind kennen und wissen, was es tut und wie es organisiert ist. Dass sie wissen, welche Freunde es hat und wie es in der Klasse zurechtkommt. Dass sie es nicht als Selbstläufer betrachten, auch wenn beide berufstätig sind, und dass sie trotzdem hellhörig sind. Eltern sind heute zudem noch mehr gefordert, sich medienpädagogische Konzepte zu überlegen: Welche Grundregeln gibt es zu Hause, welche Portale dürfen besucht werden? Es ist auch ratsam, das Handy zu gewissen Zeiten abzugeben. Kinder haben oft Schlafstörungen, weil sie die ganze Nacht damit beschäftigt waren. Eltern sollten außerdem bedenken, dass das, was die Kinder online konsumiert haben, verarbeitet werden muss.


Gibt es noch etwas zur Prävention?
Veraar: Die wichtigste Prävention ist: Wie geht es den Eltern selbst? Die psychische Gesundheit der Eltern ist Grundvoraussetzung, dass Kinder und Jugendliche gut aufwachsen können. Das, was es bei Kindern und Jugendlichen gibt – zu viele Reize und zu viele Aufgaben –, kennen auch die Erwachsenen.

Bei welchen Anzeichen sollten Eltern Hilfe holen?
Veraar: Ein Anzeichen ist, wenn Kinder und Jugendliche sich zurückziehen. Bei Jugendlichen ist es nicht leicht zu differenzieren, ob die Pubertät der Grund dafür ist. Hellhörig zu sein, ist da wichtig. Prinzipiell geht es um Veränderungen, zum Beispiel wenn Freunde verloren gehen, wenn Kinder und Jugendliche im Freundeskreis weniger integriert sind, wenn es einen Leistungsabfall gibt, oder wenn Freizeitangebote, die gerne angenommen worden sind, plötzlich auf kein Interesse mehr stoßen. Weitere Anzeichen sind eine Änderung des Schlaf- oder Essverhaltens beziehungsweise wenn das Kind in ungewohnter Weise zu- oder abnimmt. Wenn ein Jugendlicher öfter stark alkoholisiert ist oder sonstige Substanzen zu sich nimmt, sollte man sich ebenfalls Gedanken machen.

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Was sollen Eltern tun, wenn etwas im Verhalten ihres Kindes sie verunsichert?
Veraar: Sie sollen Kontakt mit Experten herstellen, mit dem Ifs oder Pro Mente zum Beispiel, und im Notfall mit der Ambulanz des LKH Rankweil, sie ist immer geöffnet. Ein Ansprechpartner ist immer auch der Haus- oder Kinderarzt. Er kann beraten oder zu Fachärzten oder -stellen überweisen. Wenn Kinder und Jugendliche von Mobbing berichten, sollte das nicht bagatellisiert werden. Es ist ratsam, so schnell wie möglich mit den Lehrern zu reden, und wenn das nicht fruchtet, zur Mobbingstelle zu gehen.

Wenn ein Jugendlicher Liebeskummer hat und deshalb Suizidgedanken äußert: Wie sollen Eltern darauf reagieren?
Veraar: Sie sollten es ernst nehmen und mit dem Jugendlichen darüber sprechen. In dem Moment, wenn die Sorgen gefühlt größer werden und sie es selbst nicht mehr einschätzen können, ist es ratsam, mit dem Haus- oder Kinderarzt Kontakt aufzunehmen. Es gibt zudem die Kampagne „Bitte lebe“. Das ist eine Suizidprävention, bei der genau aufgelistet ist, wie sich Eltern und Jugendliche verhalten sollen, wenn jemand Suizidgedanken äußert.

Suizidversuche bei Jugendlichen und sogar Kindern haben stark zugenommen.
Veraar: Die suizidalen Äußerungen und Versuche haben zugenommen, die Suizide selbst aber nicht im selben Ausmaß. Die Äußerungen und Versuche sind oftmals ein Hilfeschrei: „Ich kann nicht mehr, ich bin überfordert und brauche Hilfe“.

Welche Einrichtungen, die sich um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen kümmern, gibt es?
Veraar: Das Ifs, Pro Mente und das Aks. Die Kinder- und Jugendhilfe ist eine Anlaufstelle, wenn es um Erziehungsfragen und um innerfamiliäre Überforderung geht. Diese Stellen sind überlaufen, die Eltern sollen sich aber trotzdem an sie wenden. Die Mitarbeiter sind geschult, nehmen alles entgegen und reagieren nach Dringlichkeit.

Was können Eltern tun, wenn die Plätze bei Psychotherapeuten voll sind?
Veraar: Eltern, die die Therapie privat zahlen können, werden fündig. Es geht also um jene, die sich das nicht leisten können. Die genannten Einrichtungen – vor allem Pro Mente – bieten in der Zeit, bis es eine Psychotherapie gibt, überbrückende Maßnahmen.

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