Warum SPÖ auf Parteitag mit offenem Ausgang zusteuert

Doskozil beim Auftakt zur burgenländischen Landtagswahl
Im Normalfall gleichen Parteitage ritualisierten Veranstaltungen, auf denen inhaltliche und personelle Deals, die im Vorfeld im Präsidium, im Vorstand oder im Hinterzimmer ausgehandelt worden sind, abgesegnet werden. Punktuell regt sich Unmut oder gar Widerstand unter den Funktionären – erinnert sei an Josef Caps legendäre drei Fragen an den einstigen burgenländischen SPÖ-Landeshauptmann Theodor Kery, die einer Majestätsbeleidigung gleichkamen. Cap war 1982 Chef der SJ und konfrontierte Parteifreund Kery mit den Gerüchten, wonach dieser Waffennarr war, mehr als der damalige Kanzler Bruno Kreisky verdiente sowie Billigstrom bezog.
Gelegentlich sorgen Parteitage wegen der Abstimmungen für Schlagzeilen – man denke an die 75 Prozent von Rendi-Wagner im Jahr 2021, an die 84 Prozent von Werner Faymann im Jahr 2014, beides Vorboten einer baldigen Demontage. Wegen einer Streichorgie der Steirer blieb Josef Pröll bei seinem ersten Antreten als ÖVP-Chef im Jahr 2008 unter der 90-Prozent-Schwelle. Herbert Kickl kam 2022 auf bescheidene 91 Prozent.
Die SPÖ beschreitet bei ihrem außerordentlichen Parteitag am kommenden Samstag in Linz höchst ungewöhnliche Pfade. In der Geschichte der Zweiten Republik kam es auf Bundesebene erst dreimal vor, dass zu Beginn eines Parteitags unklar war, wer die Veranstaltung als neuer Parteichef verlässt: 1964, als Josef Klaus in der ÖVP den Großkoalitionär Heinrich Drimmel in einer Kampfabstimmung die Knie zwang, 1967, als in der SPÖ Bruno Kreisky, der “nur” über den Rückhalt der Bundesländer verfügte, den Kandidaten des roten Wien wie auch des ÖGB Hans Czettel besiegte (damals fiel eine Vorentscheidung im Parteipräsidium), 1986 in Innsbruck, als Jörg Haider FPÖ-Chef-Norbert Steger aus dem Amt puschte. Auch die Nachfolge von Michael Häupl als Wiener SPÖ-Chef wurde in einer Kampfabstimmung zwischen Michael Ludwig und Andreas Schieder entschieden.
Diesmal stehen sich der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil und der Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler in Linz gegenüber. Die Parteitagsregie sieht vor, dass beide je 30 Minuten lang vor den 609 Delegierten ihre Vorstellungen präsentieren können, im Anschluss daran bleibt Zeit für eine ausführliche Diskussion, wobei eine Redezeitbeschränkung von je drei Minuten vorgesehen ist. Da diesmal viel auf dem Spiel steht, darf man von einem mehrstündigen Schlagabtausch zwischen dem Doskozil- und dem Babler-Lager ausgehen – mit offenem Ausgang. Übrigens: Bei Gleichstand entscheidet das Los.
Der Papierform nach sollte Doskozil das Rennen machen. Von den neuen SPÖ-Landeschefs haben sich beim Präsidium vor einer Woche nur zwei dezidiert gegen den Burgenländer ausgesprochen (Wien und Vorarlberg). SPÖ-Insider betonen außerdem, dass trotz des knappen Ausgangs der Urabstimmung (33,7 Prozent und 31, Prozent) es einem Affront gleichkäme, wenn sich die roten Granden über das Votum der Basis hinwegsetzen würden. Doch die Länderchefs sind nicht allmächtig. Die Landes- und Bezirksorganisationen stellen knapp zwei Drittel der Delegierten (380 von 609). Gewerkschaften, Nachwuchsorganisationen wie die Junge Generation, die Sozialistische Jugend, der VSStÖ, aber auch der BSA, die SPÖ-Bauern oder die Red Biker sind mit eigenen Abordnungen in Linz vertreten. Die Natur- wie auch die Kinderfreunde, die Mietervereinigung oder die Arbeiterfischer sind hingegen nicht mehr dabei. Um sich nicht den strengen Spielregeln der Parteifinanzierung unterwerfen zu müssen, klinkten sie sich in den letzten Jahren aus.
Die große Unbekannte ist – aus heutiger Sicht – das Abstimmungsverhalten der Delegierten, die geheim über den künftigen Parteivorsitzenden zu entscheiden haben. Doskozils Obstruktionspolitik gegen die Parteichefin stieß auf wenig Verständnis, Babler streichelt mit seiner linken Rhetorik die Seele der schwer gebeutelten Partei und löst offenkundig auch bei älteren Genossen nostalgische Erinnerungen an einst kämpferische Jugendtage aus. Doskozil und seine Getreuen werden beim Parteitag wohl eine andere Karte ausspielen: Geht’s um klassenkämpferische Rhetorik oder um die nächste Kanzlerschaft? Soll der Bauch oder der Kopf entscheiden, das Herz oder das Hirn? Unter Verweis auf jüngste Umfragen wird hingegen das Babler-Lager dem weitverbreiteten Argument, nur mit Doskozil habe die SPÖ Chancen auf das Kanzleramt, entgegensetzen, dass die SPÖ unter Doskozil mehr Wähler an das linke Parteienspektrum verlieren wird, als rechte Wähler gewonnen werden können.
Was, um auf den Parteitag zurückzukommen, Seltenheitswert hat: Noch-SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner bleibt der Veranstaltung in Linz fern – übrigens in derselben Halle, in der Sebastian Kurz zum ÖVP-Chef gewählt worden ist. Es entspringt einer alten Tradition, dass der zumeist demontierte Parteichef der Wachablöse und der Inthronisierung seines Nachfolgers beiwohnt. So eilte auch Reinhold Mitterlehner im Juli 2017 nach Linz, um die Kür von Sebastian Kurz, der ihn über Jahre scheibchenweise innerparteilich demontiert hatte, mitzuverfolgen. Einzige bisherige Ausnahme in jüngster Vergangenheit: Werner Faymann schwänzte die Wahl seines Nachfolgers Christian Kern zum SPÖ-Parteivorsitzenden.