„Der Herr Karl“ in der Mixed-Reality Welt

Bei der Poligonale in Hohenems präsentierten Thomas A. Welte, Pan Selle und Heidi Salmhofer das hybride Theaterstück „Der Herr Karl Redux“.
Wer kennt ihn nicht, den „Herrn Karl“, der sich in Gestalt von Helmut Qualtinger im Feinkostlager an „die jungen Menschen“ wendet und im gemütlichen Wienerisch die Widersprüche und Heucheleien der österreichischen Gesellschaft in der Nachkriegszeit auf den Tisch bringt. Der „Herr Karl“ ist jetzt in der Zukunft, im Jahr 2170 steht er wieder vor Kisten im futuristischen Magazin und hält seinen Monolog über das Leben, die menschliche Gesellschaft und die Vergangenheit. Alles ist jetzt auf Chinesisch und Karl selbst berichtet als möglicherweise letzter Überlebender in einer automatisierten und düsteren Welt: „Viel ist nicht übrig geblieben von den Errungenschaften der Menschheit.“
Mit dem Internet im Kopf
Angelehnt an Qualtingers Klassiker spielt Pan Selle in Thomas Weltes „Der Herr Karl Redux“ eine digitale Figur, in der Zukunft, die – ähnlich wie im Original – Identität und Ansichten an das vorherrschende Klima anpasst und dabei versucht, so gut wie möglich durchzukommen. Mittlerweile ist die führende Weltmacht USA „untergegangen wie Atlantis“, Bücher gibt’s schon lang keine mehr und dem Herrn Karl wurde als Hoffnungsträger das ganze Internet im Kopf eingechipt. Der Herr Karl ist der „Deppate“, das Versuchskaninchen fürs Serum zur Unsterblichkeit, das ihn zum Zeitzeugen macht.

In Andeutungen liefert er dem Publikum, das als unsichtbare Throne – nur durch Geräusche mit ihm kommuniziert – dystopische Szenerien der Vergangenheit von Kannibalismus, über Klimakatastrophen und dem Ende der Menschheit.
Thomas Welte präsentiert ein Stück, das die konventionellen Theaterstrukturen aufbricht. Die Darsteller befinden sich jetzt hinter dem Publikum, das in Reihen an der Seite angeordnet abwechselnd zwischen dem animierten Video und den Schauspielern hin- und herschwenkt, wobei der Fokus immer länger auf den Videosequenzen hängen bleibt. Es gibt auch keine Kostüme, das braucht man alles nicht, denn die Welt, in der sich Herr Karl dem Publikum zuwendet, ist eine futuristische Kulisse in einer „Unreal Engine“ und Karl ist ein digitaler Herr Karl, der als Avatar von Pan Welte in einem Ganzkörper-Sensor-Anzug (Motion-Capture) gelenkt wird. Eine App am Smartphone ist das ganze Stück lang vor Selles Kopf befestigt und verleiht dem „Herrn Karl“ dessen Gesichtszüge. Die Kameraeinstellung auf dem Bildschirm wird in Echtzeit von Sarah Schier aufgenommen, die der Throne ihre Stimme verleiht. Mit den Akteuren und Videosequenzen im selben Raum können die Zuschauer quasi während des Stücks „hinter den Kulissen“ beobachten, wie Selles Bewegungen in Echtzeit auf den Avatar übertragen werden.
Poligonale
Motion-Capture-Technik
Die Poligonale verschmilzt in ihren hybriden Theaterstücken traditionelles Theater mit Live Performance-Capture-Technik. Diese Technologie ermöglicht es den Schauspielern, auf einer physischen Bühne aufzutreten, während gleichzeitig ihre Bewegungen durch einen speziellen mit Sensoren ausgestatteten Anzug digital erfasst werden. Die Software analysiert die Position und Bewegung der Sensoren und rekonstruiert die Bewegung in einer virtuellen 3D-Raumumgebung. Der Avatar in der „Game engine“ spiegelt die Aktionen des Schauspielers in Echtzeit wider.

Theater der Zukunft
Das Stück ist eine Mischung zwischen Theater und Video und verdeutlicht die zukunftsorientierten Möglichkeiten, übliche Darstellungsformen mit neuen Technologien zu verbinden, wodurch sich Formate ergeben, die auch jüngere technologieaffine Menschen ansprechen werden. Welte selbst spricht im an die Vorstellung anschließenden Gespräch von einem „Experiment“, das erst am Anfang stehe und einen Blick schafft für die Möglichkeiten des hybriden Theaters.
Anders als im Original-Herr Karl, wo Qualtinger satirisch das Leben eines typischen Wiener Opportunisten während der österreichischen Kriegs- und Nachkriegszeit aufgreift, bezieht sich Weltes Text nicht nur auf Österreich, sondern greift auf das ganze weltpolitische Geschehen zurück. Diese gesellschaftspolitische Realität denkt Welte weiter und verrät in Andeutungen, wie sich heutige Probleme in der Zukunft entwickelt haben.
Dennoch können die Zuschauer aus Karls Anekdoten nur erahnen, was in den 150 Jahren wirklich passiert ist. Das macht den Monolog inhaltlich zwar dicht und komplex, fordert aber relativ hohe Aufmerksamkeit eines Publikums, das sich zum Teil erst an die neue Technologie und die doppelte Spielfläche gewöhnen muss. Die kurze Aufführungsdauer von 30 Minuten wirkt dem dafür entgegen.
https://poligonale.com/.