Eine Eskalation mit Ankündigung und Hintergedanken

Nach den blutigen Auseinandersetzungen im Norden des Kosovos hat die Nato ihre Präsenz in der Region erhöht.
Es wird wieder gezündelt im Nordkosovo. Brandbomben, Schüsse und Tränengas säumen die Straßen. Bürgermeister übernachten, bewacht von Soldaten der Nato-Schutzeinheit KFOR, in ihren Büros. Eine Beruhigung der Lage ist nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil: Die erneuten blutigen Auseinandersetzungen im überwiegend von Serben besiedelten Nordkosovo waren eine Eskalation mit Ankündigung. 30 Friedenssoldaten aus Italien und Ungarn und – laut Angaben aus Belgrad – 52 Serben wurden bei den Unruhen vor dem Rathaus von Zvečan verletzt. Nach den gewaltsamen Protesten verstärkt die Nato dort nun die internationale Schutztruppe KFOR. Auch das Österreichische Bundesheer erhöht den Truppenschutz, so Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP).
Kommunalwahl ohne demokratischen Gehalt
Hintergrund der jüngsten Unruhen sind die Kommunalwahlen, die im April im Gebiet abgehalten worden waren. Dort wurden nämlich ausgerechnet in den serbisch-dominierten Gemeinden kosovo-albanische Bürgermeister gewählt – mit wenigen Hundert Stimmen. Warum? Belgrad hatte zum Boykott der Wahlen aufgerufen. Nur 3,5 Prozent der Wahlberechtigten im Nordkosovo, überwiegend Nichtserben, bestritten den Urnengang. Die Wahl hatte demokratisch wenig Gehalt. Das betont auch Balkan-Experte Konrad Clewing vom deutschen Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung: “Die kosovarische Regierung sollte zumindest im Hintergrund anerkennen, dass die kürzlichen Lokalwahlen in Nordkosovo faktisch wegen der ganz geringen Wahlbeteiligung nur verminderte demokratische Legitimität besitzen.”
Zur Amtseinführung am Wochenende versammelten sich daraufhin militante Serben vor den Gemeindeämtern. Ziel war es, die Bürgermeister am Eintritt zu hindern. Die kosovarische Polizei verschaffte sich gewaltsam – und ohne Rücksprache mit dem Westen – Zugang, setzte Tränengas ein. Ein Vorgehen, vor dem westliche Diplomaten gewarnt hatten.
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Ein Friedenstreffen ohne Frieden
Die Konfliktparteien beschuldigen sich gegenseitig. “Von Belgrad gesteuerte und maskierte Extremisten” hätten die “kriminellen Attacken” gegen die Kosovo-Polizei, die KFOR und Journalisten angezettelt, so Kosovos Premier Albin Kurti. Der serbische Präsident Aleksandar Vučić hingegen sieht in den Auseinandersetzungen einen Versuch Kurtis, Kosovo-Serben in “einen Konflikt mit der Nato” zu ziehen.
Dabei war im März dieses Jahres scheinbar endlich Bewegung in den Friedensprozess zwischen den beiden verfeindeten Ex-Kriegsländern gekommen. Auf Drängen der EU wurde im mazedonischen Ohrid der erste Schritt einer Versöhnung angestrebt. Ein Grundlagenabkommen sollte den Weg dazu ebnen. Unterzeichnet wurde der Vertrag von Serbien schlussendlich doch nicht. Experte Clewing sieht in dem Friedenstreffen eine Zäsur. Belgrad würde seitdem eine kosovopolitische Eskalation anstreben. Die Institutionen würden delegitimiert werden, Parallelinstitutionen bis hin zu polizeiähnlichen Strukturen seien die Folge. Doch auch Premier Kurti arbeitet einer Beruhigung entgegen. Auch die Rosu-Sondereinheit der kosovarischen Polizei wird immer wieder für ihre forsche Einsatztaktik kritisiert. Von dem Einsetzen der gewählten Bürgermeister hatten die EU und die USA dem kosovarischen Premier Kurti ebenfalls abgeraten. Vučić und Kurti, so scheint es, geht es darum, Stärke zu demonstrieren. Und nicht um die Bevölkerung vor Ort.
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Die Lage ist verfahren. Wie es weitergehen kann, scheint völlig offen. Dass die kosovarische Regierung einen Rückzieher macht, ohne dass im Gegenzug die nordkosovarischen Serben in den institutionell aufgestellten Rahmen zurückkehren, hält Balkan-Experte Clewing für unwahrscheinlich. Eine tatsächliche Rückkehr wäre im Gegenzug nur dann denkbar, wenn die Regierung in Priština rasch ein Konzept für die Einrichtung eines Gemeindebundes für die serbischen Mehrheitsgemeinden – der von Serbien und der internationalen Gemeinschaft auch gefordert wird – vorlegt.
Den Friedens- und Dialogprozess sieht Clewing in einer Sackgasse. “Die Problematik wird aktuell von den westlichen Akteuren aber kleingeredet, offenbar in der Absicht, Serbiens Parteinahme für Russland abzumildern”, so Clewing.

Die Ablenkungen des Aleksandar Vučić
Indes arbeitet der angezählte serbische Präsident Vučić offenbar ganz bewusst an einer Eskalation im Krisengebiet. Wie bereits auch in der Vergangenheit nutze Vučić die Lage im Kosovo – dessen Unabhängigkeit von Serbien er nicht anerkennt – am Wochenende für ein weiteres Ablenkungsmanöver. Vučić wolle ein Zeugnis der Tatkraft der Regierung und der Notwendigkeit serbischer nationaler Einheit vorlegen, analysiert der Balkan-Experte Clewing. Denn in Belgrad gehen seit Wochen Zehntausende Menschen auf die Straßen.
Den Anlass hatten Anfang Mai zwei Amokangriffe geliefert, bei denen 18 Menschen getötet und 20 verletzt wurden. Die Schusswaffenattentate brachen den emotionalen Damm vieler Serbinnen und Serben. Sie prangerten das aggressive politische Klima des Landes an, die Art, miteinander zu sprechen. Nicht zuletzt der autoritäre Stil Vučićs habe die Täter ermutigt, Gewalt auszuüben, so der Vorwurf. Der Grund für die Proteste ist aber vor allem auch die Art und Weise, wie Vučićs Kabinett mit der Krise in Serbien umgeht. Da wird die Schuld im Westen gesucht, bei Videospielen, die Gewalt förderten. Verschwiegen wird hingegen eine Kultur der patriarchalen Selbstverteidigung (Stichwort drei Millionen illegale Waffen), der Hassreden im Fernsehen oder der Hintergrund des Täters. Dieser war in einem der Fälle nämlich ein glühender Anhänger des Vučić-Regimes, das einen Großteil der Medien kontrolliert und Verbindungen zur Mafia pflegen soll.
All das prangern die oppositionellen Protestierenden in Belgrad an. Der Druck steigt für den Präsidenten immer mehr – er fürchtet Sand in seinem Autokratie-Getriebe. Gleichzeitig steigt im Machtzirkel Belgrads die Verunsicherung. Viele Akteure rund um Vučić hätten mittlerweile Angst, “ihre durch die Medienmacht der Regierung lang erworbene Dominanz im politischen Leben des Landes durch die Straßenproteste zu verlieren”, erklärt Balkan-Experte Konrad Clewing.
Auch deshalb hat Vučić am vergangenen Wochenende Gegenproteste lanciert. Busweise wurden Anhänger aus ganz Serbien – und auch aus Nachbarstaaten – in die Hauptstadt gebracht. Nicht nur freiwillig, wie Berichte von Menschenrechtsgruppen zeigen. Für Vučić sollte es eine Machtdemonstration werden, die “größte Kundgebung in der Geschichte Serbiens”. Laut regierungsnahen Medien hatte der serbische Präsident bei seiner Kundgebung am Freitag dann über 200.000 Anhängerinnen und Anhänger versammelt. Die Zahl wird von unabhängigen Beobachtern angezweifelt.

Parteispitze abgegeben
Darüber hinaus nutzte Vučić den vergangenen Samstag für einen weiteren politischen Schachzug. Wie bereits im Vorfeld angekündigt, übergab der Präsident den Parteivorsitz seiner Partei “SNS” an Verteidigungsminister Miloš Vučević. Gegenkandidaten gab es keinen. Vučević gilt darüber hinaus als treuer Gefolgsmann des Präsidenten. Bis 2022 war er Bürgermeister der zweitgrößten serbischen Stadt Novi Sad. Auch hätte Vučić gemäß der Verfassung seinen Parteivorsitz bereits 2017 übergeben müssen.
“Sein Rücktritt vom Parteivorsitz scheint mir rein taktisch motiviert. Er nimmt ‘Dampf vom Kessel’ der Proteststimmung, indem er gewissen politischen Wandel suggeriert, in Wirklichkeit aber die Regierung ebenso wie die Partei weiterhin unvermindert steuert. Nichts deutet darauf hin, dass der formale Wechsel in der Partei an den realen Machtverhältnissen etwas ändern wird”, so Experte Clewing.
Zu guter Letzt kündigte Vučić zuletzt an, eine neue Volksbewegung mit ihm selbst an der Spitze zu schaffen. Diese soll Menschen parteiübergreifend ansprechen. Zugleich bleibe er selbst Mitglied der SNS, sagte er am Samstag auf dem Parteitag in Kragujevac, 110 Kilometer südlich von Belgrad.