Der weiße Hai im Rhein – Fantasieängste

Heidi Salmhofer mit ihrer Kolumne in der NEUE am Sonntag.
Viel Fantasie zu haben ist nicht so toll, wie man sich möglicherweise vorstellt. Zwar ist mir und meinem Kopf nie langweilig und ich bin im durchgehenden Austausch mit mir selbst, imaginären Personen oder fiktiven Fabelwesen.
Dieses Talent hat aber auch seine Schattenseiten. Beschäftigt mich etwas oder jemand, führe ich in Gedanken intensive Gespräche, bewege mich in allen möglichen Zukunftsszenarien und bilde mir ein, dass mir die Realität nichts mehr Neues anbieten wird und ich auf die mir bevorstehende Situation bestens vorbereitet bin. Immerhin bin ich wie eine Formel-Eins-Fahrerin jede mögliche Kurve vor meinem inneren Auge abgefahren. Inklusive Einbahnen, Kreuzungen, Feldwegen, Trampelpfaden, Gehsteigen, Fußgängerzonen. In ganz vielen Fällen kommt es dann doch anderes und die Worte, die ich meinem Gegenüber fiktional in den Mund gelegt habe, stellen sich als nichts anderes als eben pure Fantasie heraus. So kommt es, dass etwas, das mich tagelang innerlich mitgenommen und gestresst hat, eigentlich nichts weiter war, als der milde Hauch von Nichts.
Am allergemeinsten zeigt sich aber meine innere Bildergalerie mit Hörspieluntermalung, wenn es um meine Mädels geht. Wenn ich die zwei nicht direkt vor meiner Nase habe, fangen Horrormovies an, loszurattern. Warum kann ich mir nicht einfach vorstellen, dass meine Kinder lernend und Bücher lesend auf einer Decke in der Sonne sitzen? Nein, oh nein, mein Kopfkino zeigt mir kiffende, grölende Mädels, auf Motorrädern von testosterontriefenden Jungs sitzend und mit mehr als 100 Sachen in Richtung Italien abhauend. Gehen sie schwimmen, wird der Rhein zur Todesfalle, mit versteckten Strudeln, Felsblöcken und weißen Haien.
Eine einfache Zugfahrt meiner Töchter artet zum Kriminalfall mit Entführungsdelikt aus und der Schulweg wird zur Unwetterzone mit Gewittereinschlagsgefahr. Kurz, mich macht der Freiheitsdrang meiner Mädels ab und an ganz schön unrund. Natürlich verheimliche ich diese – durchaus fürsorglich gemeinten Ängste – vor den Töchtern. Doch dann kommt dieses eine kleine Teufelchen, das sich auf meine Schulter setzt und raunt: „Das ist dein Mutterinstinkt, gib ihm nach, da ist was faul!“ Würde ich diesem Teufelchen gehorchen, meine Mädels wären nicht so selbstständig, wie sie jetzt sind.
Ich verscheuche es und flüstere zurück: „Solange du mir das einreden musst, ist alles gut. Da vertraue ich meinem Instinkt.“ Ich schließe die Augen und gebe mich neuen Fantasien hin. Meer, Kokosnüsse, Cocktails, Sonnenuntergang. Da fällt mir sicher eine Geschichte dazu ein. Einhundertprozentig.
Heidi Salmhofer ist freiberufliche Theatermacherin und Journalistin. Sie lebt als alleinerziehende Mutter mit ihren Töchtern in Hohenems.