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Bergkarabach zwischen Kapitulation und Genozid-Angst

21.09.2023 • 11:58 Uhr / 5 Minuten Lesezeit
Am Mittwochabend erklärte der aserbaidschanische Präsident den Militäreinsatz gegen Bergkarabach für beendet
Am Mittwochabend erklärte der aserbaidschanische Präsident den Militäreinsatz gegen Bergkarabach für beendet APA/AFP/TOFIK BABAYEV

Wieso der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan eskaliert ist und was Europa damit zu tun hat.

Was passiert gerade in Bergkarabach?
Aserbaidschanische Streitkräfte haben am Dienstag im Zuge einer Militäroffensive armenische Stellungen angegriffen. Mindestens 32 Menschen wurden getötet, Hunderte verletzt. Militärische Ziele seien “neutralisiert” worden, heißt es aus dem Verteidigungsministerium in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Laut armenischen Angaben soll auch zivile Infrastruktur den Kämpfen zum Opfer gefallen sein. Heute einigte man sich auf eine Feuerpause. Die von Armenien akzeptierte Forderung Bakus: Kapitulation. Darüber hinaus sollen morgen Gespräche über die Integration von Karabach-Armeniern in das verfeindete Nachbarland Aserbaidschan beginnen. Bereits heute strömten Tausende beunruhigte Bewohner zum Flughafen der Regionalhauptstadt Stepanakert, um das Land zu verlassen. Am Abend erklärte der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev den Militäreinsatz für beendet. Aserbaidschan habe seine Souveränität über das Gebiet wiederhergestellt, sagte er in einer Fernsehansprache in Baku.

Hat sich die Situation abgezeichnet?
Ja. Seit Monaten kündigt sich ein stiller Völkermord in der Krisenregion an. Viele Beobachter und Experten warnten vor einer Eskalation, die westliche Staatengemeinschaft verhielt sich bis zuletzt zögerlich. In Bergkarabach fürchten 120.000 Menschen – davon alleine 30.000 Kinder – seit vielen Wochen, ausgehungert zu werden. Aserbaidschan blockiert den einzigen Versorgungskorridor in die Region. Es fehlt am Nötigsten. Zuletzt durften nicht einmal mehr Konvois des Roten Kreuzes und medizinische Notfalltransporte passieren.

Was sind die Hintergründe des Konflikts?
Die Wurzeln des Konflikts reichen bis in die Zarenzeit. Beide Länder, sowohl das christlich-orthodoxe Armenien als auch das muslimische Aserbaidschan, gehörten einst zur Sowjetunion. Unter Stalin wurde Bergkarabach, das überwiegend von Armeniern besiedelt ist, aserbaidschanisch. Völkerrechtlich gilt dies bis heute. Doch als die Sowjetunion zerbrach, eskalierte die Situation zunehmend. 1991 besetzte Armenien die Region, Bergkarabach erklärte sich unabhängig. Vor drei Jahren eroberte Baku zwei Drittel der Enklave zurück. Übrig blieb der sogenannte Latschin-Korridor, der die Bewohner Bergkarabachs mit ihrer armenischen Heimat verband.

Wer will was?
Aserbaidschan will um jeden Preis die volle Kontrolle über Bergkarabach erlangen – trotz Zugeständnissen Armeniens und obwohl die armenische Führung in Jerewan auf Distanz zu den Karabach-Armeniern und Separatisten gegangen ist. Diese wiederum fürchten Unterdrückung bei einer möglichen Eingliederung. “Die armenische Regierung hat keine Möglichkeiten mehr zu helfen, ohne einen Krieg zu riskieren”, sagt Naira Sahakyan, Historikerin an der American University of Armenia gegenüber der Kleinen Zeitung. Anders als das armenische Volk hätte Jerewan mittlerweile keine Hoffnung und Motivation mehr zu helfen.

Wer hält zu wem?
Der Südkaukasus ist seit jeher ein verworrenes Gebiet wechselnder Abhängigkeiten. Aserbaidschan erhält Waffensysteme aus Israel. Zur Türkei pflegt man intensiven Kontakt. Die beiden Länder propagieren den Slogan “Eine Nation, zwei Staaten”. Armenien wiederum unterhält enge Kontakte zum Iran, Indien und Frankreich.

Was hat der Konflikt mit Russlands Krieg in der Ukraine zu tun?
Die traditionelle Schutzmacht Armeniens – Russland – ist seit dem Krieg in der Ukraine geschwächt. Nach dem letzten Krieg vor drei Jahren sollten russische Friedenssoldaten vor Ort für Stabilität sorgen. Doch die Prioritäten Moskaus haben sich verschoben. “Russland braucht den Nord-Süd-Korridor über Aserbaidschan und die Türkei, um westliche Sanktionen zu umgehen”, analysiert der Kaukasus-Experte Stefan Meister. Hinzu kommt, dass Armenien sich zunehmend am Westen orientiert. “Dass Armenien humanitäre Hilfe in die Ukraine entsandte, hat zur Untätigkeit der russischen Friedenstruppen beigetragen”, betont Naira Sahakyan. Dieser Tage hielten armenische Truppen zudem eine gemeinsame Militärübung mit den USA ab – eine kleine Sensation.

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Warum befindet sich auch die EU in der Zwickmühle?
Seit dem Krieg in der Ukraine und den damit verbundenen Sanktionen gegen Russland gewinnt Aserbaidschan als Energielieferant der EU an Bedeutung und Selbstvertrauen. “Aserbaidschan fungiert als Zwischenhändler, indem es russisches Öl an die EU verkauft”, sagt Naira Sahakyan. Rund zwölf Milliarden Kubikmeter Gas – 50 Prozent mehr als im Vorjahr – sollen nach Europa geliefert werden. Bis 2027 sollen jährlich 20 Milliarden Kubikmeter fließen.

Wie reagiert die internationale Gemeinschaft bisher?
Zahlreiche EU-Länder, darunter auch Österreich und Deutschland, haben die Offensive Bakus verurteilt. “Dies ist einer der seltenen Fälle, in denen der Westen keine falsche Ausgewogenheit an den Tag legte”, betont Sahakyan. Der einzige Hebel des Westens seien Sanktionen gegen die einflussreichen aserbaidschanischen Clans “Alijew” und “Paschajew”.