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Amerikaner lebt seit 83 Tagen unter Wasser

22.05.2023 • 16:21 Uhr / 9 Minuten Lesezeit
Ex-US-Navy-Soldat Joseph Dituri lebt seit 83 Tagen unter Wasser
Ex-US-Navy-Soldat Joseph Dituri lebt seit 83 Tagen unter Wasser AP

Ex-US-Navy-Soldat Joseph Dituri lebt seit 83 Tagen unter Wasser – ein Weltrekord.

Das Leben unter Wasser. Bei diesem Satz denkt man an wuselnde Fischschwärme, sich windendes Seegras. Der Mensch? Er taucht vielleicht ein in diese Welt, aber nicht länger dort auf. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht nahe liegt, ist das menschliche Leben unter der Meeresoberfläche seit jeher Teil menschlicher Überlegungen. Bereits Jules Verne beschäftigte sich 1869 in seinem Roman “20.000 Meilen unter dem Meer” mit der Frage nach einer Welt, die sich dem Erdboden entzieht. In seinem Buch lässt Verne den Kapitän Nemo mit seinem Unterseeboot untertauchen. Nemo (lat. Niemand) findet sich dort wieder, wo er seinem Namen gerecht wird – im nassen Nichts. Der Kapitän hat mit der normalen Welt auf der Erde gebrochen – er setzt seine Hoffnung nicht zuletzt in ein neues Leben unter der Gischt.

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Dr. Joseph Dituri (rechts) winkt dem Taucher Thane MilhoanAP

Ist ein Leben unter Wasser möglich?

Dass das Leben unter Wasser nicht bloß Phantasma in der Literatur ist, daran erinnert dieser Tage auch Joseph Dituri. Der amerikanische Universitätsprofessor hat gerade einen neuen Rekord aufgestellt. Seit 83 Tagen lebt der 55-Jährige in einer Tauchbasis in Florida unter Wasser. Anders als in U-Booten, hat Dituri keine Möglichkeit, den erhöhten Unterwasserdruck auszugleichen. Seit 1. März verbringt der Biomedizintechniker, der 28 Jahre bei der US-Marine diente, in einer kleinen, wohnlich eingerichteten Kammer in neun Metern Tiefe. Dort will Dituri untersuchen, ob ein Leben unter Wasser für den Menschen möglich ist, der Körper dem extremen Druck überhaupt über längere Zeit standhalten kann. Täglich testet er seine Hirnaktivität, seine Herz- und Lungenfunktion, untersucht seine Blutwerte, entnimmt Urinproben. Vor dem “Einzug” wurde Dituri umfassend durchgecheckt. Auch jetzt, während seines Aufenthalts, besuchen ihn Ärzte. Sie überwachen seine Organ-Funktionen, haben ein Auge auf seine psychische Gesundheit – das Leben in Isolation, umgeben von Wasser, geht an die Substanz.

Amerikaner lebt seit 83 Tagen unter Wasser
Freyja-Maria Smolle-Jüttner, Leiterin der Klinischen Abteilung für Thorax- und hyperbare Chirurgie an der Medizinischen Universität Graz.Fotograf

“Das große Problem ist der Druck, der auf dem Körper lastet. Der normale Luftdruck beträgt 1 Bar. Er lässt uns ohne Energieaufwand atmen. Bei zehn Metern verdoppelt sich der Druck aber bereits auf 2 Bar”, so der Physiologe Andreas Rössler von der Med Uni Graz. Unser Organismus sei für den Aufenthalt auf der Erde konstruiert. Auf eine neue Umgebung trainieren könne man die Lunge nicht, so Rössler. “Wesentliche Abweichungen davon führen zu negativen Effekten sowohl bei zu geringen Druckniveaus – zum Beispiel Höhenbergsteigen – als auch bei zu hohen Druckniveaus”, betont auch Freyja-Maria Smolle-Jüttner, Leiterin der Klinischen Abteilung für Thorax- und hyperbare Chirurgie an der Medizinischen Universität Graz.

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Physiologe Andreas RösslerSonstiges

Mikrowellen-Essen und Tauchgänge

100 Tage will Dituri in der 100 Quadratmeter großen “Jules Lodge” bleiben. Um den Weltrekord geht es ihm dabei nicht. Vielmehr um die Zukunft. Der Ex-Marineoffizier beschäftigt sich seit Jahren mit Hirnverletzungen. In seiner Zeit beim Militär wird er immer wieder Zeuge von ihnen. Er sieht, wie seine Kollegen Gehirnerschütterungen und Schädelhirntraumata davontragen und stellt sich irgendwann die Frage, inwiefern der hohe Druck unter Wasser vielleicht sogar helfen könnte. “Life on Mars?” Nein, ein Leben “under pressure” sozusagen. Die Idee dabei sei auch, “die Weltmeere zu bevölkern, sich um sie zu kümmern, indem wir in ihnen leben und sie wirklich gut behandeln”, sagt der Amerikaner.

Der Alltag von Dituri funktioniert eigentlich ähnlich, wie der über Wasser. Er steht morgens auf, macht sich Eier und Lachs – in der Mikrowelle, der erhöhte Druck des Meeres lässt keine andere Essenszubereitung zu – und begibt sich zur Arbeit. Per Online-Zuschaltung (der Internetzugang wird über ein Ethernetkabel sichergestellt) unterrichtet er an der Universität Florida in den Fächern Hyperbarmedizin und Biomedizintechnik. Statt sich die Füße an der frischen Luft zu vertreten, schnappt sich Dituri seine Sauerstoffflasche für einen Tauchgang.

Positive Effekte auf die Gesundheit?

Inwiefern sich der Aufenthalt auf Dituris Gesundheit auswirkt, werden weitere Tests zeigen. Bereits kurzfristig scheint die neue Umgebung seinen Körper zu beeinflussen. Seine Cholesterin-Werte seien gesunken, auch hätte er eine längere Tiefschlafphase, meint Dituri.

Die Medizinerin Freyja-Maria Smolle-Jüttner zeigt sich ob der Behauptung hingegen skeptisch: “Überdruckexposition bedeutet grundsätzlich Stress für den Organismus. Der erhöhte Stickstoffanteil im Körper kann eine Entzündungsreaktion in den weißen Blutkörperchen auslösen.” Bis dato hätte die Forschung keine positiven Effekte feststellen können – außer bei der hyperbaren Sauerstofftherapie, die unter anderen Voraussetzungen durchgeführt wird.

“Die Forschung in diesem Bereich wird auch als mehr oder weniger abgeschlossen betrachtet”, ergänzt der Physiologe Rössler. Grundlegende, neue Erkenntnisse würden nicht mehr erwartet. Bei einem Aufenthalt im Überdruck – also zum Beispiel bei Tiefseetauchern – würden darüber hinaus adaptierte Gasgemische zur Atmung verwendet, so Rössler. “Das Auftauchen aus solchen Tiefen dauert viele Tage und wird sorgfältig von spezialisierten Ärzten auf den Tauchschiffen gesteuert. Die gesundheitlichen Nebenwirkungen und Schäden sind trotzdem erheblich, weshalb nur wenige, sehr fitte, junge Taucher diese – extrem gut bezahlte – Tätigkeit für eine kurze Zeit ihrer Berufslaufbahn ausüben. Wir sind also leider sehr weit entfernt vom Leben in der Tiefsee”, betont Smolle-Jüttner.

Der Traum nach einer neuen Welt

Das Experiment von Joseph Dituri ist aber trotz allem mehr als die stille Utopie eines Eigenbrötlers. Das Wohnen im Wasser könnte eines Tages sogar völlig normal sein. Schließlich zwingt der steigende Meeresspiegel uns, neue Lebensräume zu erschließen. Die größten Metropolen der Welt liegen am Meer. Ganze Stadtteile, ob in New York, Miami, Mumbai oder Tokio, werden irgendwann unter Wasser liegen. Für 40 Prozent der Menschheit ist die Küste nicht weniger als 100 Kilometer entfernt. Die Möglichkeiten des Wassers scheinen – abgesehen von physikalischen Grenzen – mannigfaltig. Alleine 70 Prozent der Erdoberfläche fallen auf Ozeane.

Einer der bekanntesten Unterwasserarchitekten ist Jacques Rougerie. Seit den 1970er-Jahren entwirft der Franzose Siedlungen auf dem Meeresgrund. 1977 wurde “Galathée”, Rougeries erstes Unterwasserhaus, fertiggestellt. Sein Lebenswerk soll der “SeaOrbiter” werden – eine riesige Seeforschungsstation, die senkrecht im Atlantik treiben soll. Als architektonisches “Seepferd” mit einer Höhe von 51 Metern (30 Meter davon unter Wasser) soll der SeaOrbiter den Ozean erkunden. Denn nach wie vor wissen Forscherinnen und Forscher wenig über den Meeresgrund. Noch immer rechnet man mit der Entdeckung neuer Lebewesen.

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“Oceanix City”, ein Bauprojekt der Vereinten Nationen, soll Platz für 10.000 Einwohner am Wasser bietenImago

Aquatektur-Projekte

Aquatektur, also Architektur für das Wasser, wird immer mehr zum realistischen Vorhaben. Zahlreiche Firmen arbeiten an Städten unter oder auf dem Wasser. So beschäftigt sich das japanische Unternehmen Shimizu Corporation mit der Idee einer submarinen “Ocean Spiral”, die chinesische Baufirma CCCC arbeitet hingegen an einer “Floating City”, die in zehn Jahren fertiggestellt werden könnte; der Architekt Mathias Koester hat mit seinem “Seascraper” hingegen die Vision eines Hochhauses im Wasser. Und auch die Vereinten Nationen widmen sich dem Thema. Ein UN-Habitat namens “Oceanix City” soll künftig Platz für 10.000 Einwohner auf 75 Hektar bieten. Auf dem Wasser versteht sich.

Als “Silent World” beschrieb der berühmte Meeresdokumentar Jacques-Yves Cousteau die Welt des Wassers. Diese leise Welt, sie fasziniert – auch weil sie als mögliche Antwort auf die drängenden Fragen unserer Zeit herhalten muss. Überbesiedelung, Klimaschutz, Städteentwicklung. Unser irdisches Leben ins Unterirdische zu verfrachten bezirzt als Plan B, als hoffnungsvolle Exit-Strategie, wenn es auf dem Land zu ungemütlich wird.

Übrigens: Wie so oft hat die Zeichentrick-Serie “The Simpsons” auch dieses Szenario – also das Leben unter Wasser – vorhergesagt. In der Folge “Future Drama”, die bereits im Jahr 2005 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde, verprasst Homer die Ersparnisse der Familie, um ein Unterwasserhaus zu kaufen. Seine Frau Marge kann er damit aber nicht beeindrucken. Ganz im Gegenteil: Sie trennt sich daraufhin von ihm.

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