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Die iranische Moralpolizei ist zurück

18.07.2023 • 17:51 Uhr / 6 Minuten Lesezeit
Die Proteste gehen die Maßnahmen der iranischen Sittenpolizei gehen weiter.
Die Proteste gehen die Maßnahmen der iranischen Sittenpolizei gehen weiter. AFP

Im Iran ist die Lage nach wie vor alles andere als entspannt. Die Bevölkerung lässt sich nur teilweise einschüchtern.

Als im Iran voriges Jahr landesweite Proteste gegen das theokratische System ausbrachen, verschwand die Religionspolizei von den Straßen. Seitdem wurden Frauen in der Islamischen Republik vielerorts nicht mehr von den Sittenwächtern kontrolliert, wenn sie ohne Kopftuch aus dem Haus gingen.

Der zeitweilige Rückzug der Religionspolizei war der größte Erfolg der Protestbewegung gegen das Regime und zeigte, wie verunsichert die Mullah-Regierung wegen des Aufstandes war. Jetzt sind die Religionspolizisten zurück: Das Regime fühlt sich sicher genug, um den Kopftuchzwang wieder durchzusetzen. Damit könnte die Regierung der Protestbewegung neuen Auftrieb geben.

Tod einer 22-Jährigen entfachte Wut und Widerstand

Beamte der Religionspolizei in der Hauptstadt Teheran traten die Proteste im September los, als sie die 22-jährige Mahsa Amini wegen eines angeblich zu locker gebundenen Kopftuchs festnahmen und so schwer misshandelten, dass sie starb. Aminis Tod war der Funke, der die aufgestaute Wut vieler Iraner über ihren Staat explodieren ließ. Bei Demonstrationen verbrannten Frauen öffentlich ihre Kopftücher, und die Parole „Frauen, Leben, Freiheit“ wurde zum Schlachtruf von Millionen Demonstranten.

Die Moralpolizei sei nach Ausbruch der Proteste im vergangenen Jahr nur aus taktischen Gründen zurückgezogen worden, sagt Ali Fathollah-Nejad, Iran-Experte und Direktor der Berliner Denkfabrik Center for Middle East and Global Order (CMEG): „Die Sicherheitskräfte hatten damals andere Prioritäten“, sagte Fathollah-Nejad unserer Zeitung. Nun wähne sich das Regime sicher, auch weil die internationale Aufmerksamkeit für die Lage im Iran gesunken sei.

Polizei und die regimetreue Basidsch-Miliz hatten die Proteste damals brutal auseinander getrieben – rund 500 Menschen kamen bei Straßenschlachten ums Leben, sieben Demonstranten wurden hingerichtet. Inzwischen gibt es kaum noch Straßenproteste.

Rückkehr der Sittenpolizei war absehbar

Die Rückkehr der Religionspolizei war deshalb nur eine Frage der Zeit. Präsident Ebrahim Raisi wies Anfang des Monats alle Regierungsstellen an, den Kopftuchzwang wieder durchzusetzen. Nun erklärte die zentrale Polizeibehörde, Frauen ohne Kopftuch würden ab sofort wieder verwarnt oder festgenommen. Wie die Nachrichtenagentur AP meldete, patrouillieren die Beamten der Religionspolizei wieder in Teheran. Der oppositionelle Exilsender Iran International berichtete, eine junge Frau sei von der Religionspolizei in der Hauptstadt festgenommen worden.

Dass die Religionspolizei ausgerechnet jetzt wiederbelebt werde, sei kein Zufall, sagt der türkische Iran-Experte Arif Keskin. Weil an diesem Mittwoch der für die Schiiten heilige Monat Muharrem beginne, wollten die Behörden die Gefühle frommer Muslime für sich nutzen und radikale Kräfte innerhalb des Regimes zufriedenstellen, sagte Keskin unserer Zeitung. Die Spitzen des Regimes setzten darauf, dass es im heiligen Monat keine Proteste gegen die Moralpolizei geben werde.

Keskin ist sicher, dass Raisi mit der neuen Kopftuch-Offensive auch von der Erfolglosigkeit seiner Regierung ablenken will. Der Präsident war vor zwei Jahren mit dem Versprechen angetreten, die Inflation zu bekämpfen und das Leben für die Iraner leichter zu machen. Stattdessen hat sich die Wirtschaftskrise verschärft. Korruption und Misswirtschaft gehören zum Alltag der Islamischen Republik. Raisi und andere Regierungspolitiker haben nichts daran geändert – neuer Streit ums Kopftuch komme da gerade recht, sagte Keskin.

Protest haben den Iran verändert

„Außerdem wollen sie gegenüber der iranischen und der internationalen Öffentlichkeit zeigen, dass sie die Proteste unterdrückt haben“, fügte Keskin hinzu. „Wir wissen alle, dass dies falsch ist: Die Mahsa-Amini-Proteste haben die iranische Gesellschaft tiefgreifend verändert.“

Für Raisi und andere Hardliner wie Revolutionsführer Ali Khamenei ist das Kopftuch eines der wichtigsten Symbole des schiitischen Gottesstaates. Verhandlungen oder Kompromisse mit der Protestbewegung kommen für sie nicht in Frage. „Zu keinem Zeitpunkt hat das Regime in dieser Frage Zugeständnisse gemacht“, sagt der in den USA lebende Iran-Experte und Autor Arash Azizi. „Viele Amtsträger, mit Khamenei an der Spitze, waren immer fest entschlossen, die Kopftuch-Regeln durchzusetzen“, sagte Azizi unserer Zeitung.

Für die Demonstranten ist eine Abschaffung der seit 40 Jahren bestehenden Kopftuchpflicht eine zentrale Forderung. In einigen Landesteilen sind bereits neue Proteste aufgeflammt, wie Iran International berichtete. Beamte der Religionspolizei in Rascht am Kaspischen Meer versuchten demnach, drei Frauen festzunehmen, die kein Kopftuch trugen. Die Frauen seien von Passanten aus der Gewalt der Polizisten befreit worden. Anschließend hätten sich tausende Demonstranten in Rascht versammelt, meldete der Sender.

Proteste bereiten dem Regime Sorgen

Das könnte der Anfang einer neuen Welle sein. Azizi weist darauf hin, dass Millionen Frauen in ganz Iran derzeit ohne Kopftuch oder sogar in ärmellosen Hemden auf die Straße gehen und damit zivilen Ungehorsam üben. „Das macht dem Regime Angst“, sagt Azizi. „Es versucht, dies zu unterbinden.“

Der neue Einsatz der Religionspolizei dürfte aber nicht ausreichen, um die Iranerinnen einzuschüchtern. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass der Iran wieder zu einem Zustand wie in der Zeit vor dem Beginn der Proteste im vorigen September zurückehren werde, auch wenn dies das Ziel des Regimes sei, meint Fathollah-Nejad: „Man kriegt den Geist nicht mehr zurück in die Flasche.“