Kultur

Zwischen Weltgericht und Trauermarsch

04.10.2021 • 20:20 Uhr / 4 Minuten Lesezeit
Kirill Petrenko führte souverän durch Höhen und Tiefen der „Neunten“. <span class="copyright">Mathis Fotografie (4)</span>
Kirill Petrenko führte souverän durch Höhen und Tiefen der „Neunten“. Mathis Fotografie (4)

Ovationen beim letzten “Mahler 9×9” mit Kirill Petrenko und dem SOV.

Nach 13 Jahren hat sich der Kreis in der gemeinsamen Auseinandersetzung von Kirill Petrenko und dem Symphonieorchester Vorarlberg mit den Symphonien von Gustav Mahler in der grandiosen Aufführung der neunten Symphonie geschlossen. Dass der Dirigent trotz seiner Weltkarriere, die ihn inzwischen zu den Berliner Philharmonikern geführt hat, immer wieder hierher zurückgekehrt ist, ist fast ein Wunder und seiner Verbundenheit mit dem Orchester (und seiner hier lebenden Mutter Olga) zu verdanken. Selbst die Corona-Pandemie mit ihren Einschränkungen konnte der Verwirklichung des Projekts nichts anhaben, nach mehrmaliger Verschiebung konnten jetzt die Aufführungen in Bregenz und Feldkirch in ausverkauften Häusern vor einem begeisterten Publikum stattfinden.

Auflehnung

„Die Neunte“: Seit Beethovens neunter Symphonie hatte diese Zahl für die Komponisten der Romantik eine schicksalhafte Bedeutung, besonders aber für Bruckner und Mahler. Bruckners „Neunte“ bricht nach dem gewaltigen langsamen Satz unvollendet ab, Mahler scheute sich vor seiner neunten Symphonie. Schließlich rang er sich das Werk während zweier Sommer in den Ferien ab, gezeichnet von Schicksalsschlägen, Krankheit und Ehekrise. So ist die neunte Symphonie auch ein Werk des Abschieds, der Auflehnung, des Verstummens. Die Uraufführung am 26. Juni 1912 erlebte der Komponist nicht mehr, die dunklen Vorahnungen des Künstlers hatten sich erfüllt.
So wie das Finale im dreifachen Pianissimo der Streicher verlischt, so erlebt man zu Beginn das Werden einer Symphonie, die Bildung von Themen aus zunächst stockenden, vereinzelten Motiven. Zurückgenommen und hochkonzentriert formt Petrenko mit den fast 100 Musikerinnen und Musikern diesen Beginn, der bald zu ersten Höhepunkten, Schicksalsklängen, Widerständen führt.

Kirill Petrenko am 2. Oktober in Bregenz.
Kirill Petrenko am 2. Oktober in Bregenz.

Verstörend sind diese Wechsel von höchster Anspannung und Leichtigkeit, von Aufbegehren und Neubeginn, von verfremdeten Klängen der gestopften Blechbläser und aus dem Nichts aufsteigenden Geigensoli – Hans-Peter Hofmann, der so quirlig aktive Konzertmeister, den man am Stuhl festbinden müsste, hat fast alle Mahler-Aufführungen mitgestaltet. Petrenko hat dies alles souverän in der Hand. Das SOV begibt sich mit der großen Streichergruppe, den vielfarbigen Holzbläsern, dem warmen oder schmetternden Blech und den Schlagwerkern mit größtem Engagement hinein in die komplexe Partitur. Mahlers Abschied von der Welt spiegelt sich im ersten Satz in einer ungeheuer modernen, ­zerrissenen Tonsprache zwischen Weltgericht und Trauermarsch.

Fegefeuer

Aus früheren Symphonien vertrauter ist der gebrochene Tonfall des zweiten Satzes, der mit Tanzmelodien, Ironie, Verfremdung und tönenden Grimassen spielt. In diesem „Totentanz“ (so der Dirigent Willem Mengelberg) breiten Petrenko und das SOV die ganze Farbpalette einer doppelbödig zwielichtig-fröhlichen Musik aus, bevor mit dem dritten Satz Urgewalten eines wilden Ländlers losbrechen: Es klingt nach Fegefeuer und Hexensabbat eines in all seiner Virtuosität geforderten Orches­ters, und es bedarf einer langen Sammlung, bevor Petrenko die langen Atembögen des abschließenden Adagios gestaltet. Nur wenige Partiturseiten umfasst dieser Variationensatz, doch scheinen sie wie ein verdichteter Rückblick auf Mahlers Lebenswerk mit einer Melodie, die aus den „Kindertotenliedern“ herüberweht.

Mit dem Gesang der Streicher, die so zerbrechlich und klangsatt zugleich spielen, den erschütternden Höhepunkten und dem langen „Ersterben“ der letzten Takte spannt Petrenko den Bogen ins Unendliche. Ovationen und Glückseligkeit auf allen Seiten für dieses Konzert und das Gesamtkunstwerk „Mahler 9×9“. Was wohl danach folgt? Die Verbindung wird hoffentlich nicht abreißen!

Kirill Petrenko mit dem Symphonie Orchester Vorarlberg.
Kirill Petrenko mit dem Symphonie Orchester Vorarlberg.

Katharina von Glasenapp