Lebenszeugnisse aus der Altpapiertonne

In seinem autobiografischen Buch „Das glückliche Geheimnis“ erzählt Arno Geiger von seinem Doppelleben der letzten Jahrzehnte.
In den Tiefen der Wiener Altpapiercontainer findet der Autor Arno Geiger fast ein Vierteljahrhundert lang seine Inspirationen und Schätze. Vieles davon macht er zu Geld, anderes verarbeitet er in Büchern. Was er von den regelmäßigen Fahrradrunden mitnimmt an Papier und Menschenkenntnis hat ihn möglicherweise zu seinem Weg zum Erfolg geführt. Nie hat ihn jemand verraten, wenn er aus dem Abfall fremder Menschen wertvolle Bücher, Briefmarkensammlungen, historische Wertpapiere, alte Comics oder Plakate fischte. In „Das glückliche Geheimnis“ deckt Geiger sich selbst auf. Sehr persönlich schreibt er in groben Zügen über gewisse Episoden seines „Doppellebens“, das so wenig ins gesellschaftliche Bild und zu seinen eigenen „konventionellen Vorstellungen“ vom Akademikerleben passt, dass er seine zum Beruf gemachte Tätigkeit nur in seinen Liebesbeziehungen zur Sprache bringt. Und auch diese sind Teil der Geschichte.

Offen und direkt
Sie beginnt in Wien, Geiger ist ein 24-jähriger finanzschwacher Student, der durch Zufall auf eine Möglichkeit stößt, sich ohne feste Anstellung durchzuschlagen.Beharrlich und ängstlich blickt er in die ungewisse Zukunft. Er braucht einiges an Geduld und Durchhaltevermögen, bis er sich als Schriftsteller durchsetzen kann. In der Zwischenzweit fährt er mit dem Fahrrad durch die Stadt, von Altpapierbehälter zu Altpapierbehälter, und liest jahrzehntelang die persönlichen Briefe von (meist gestorbenen) Menschen. Der Behälter für Altpapier verbirgt „das Versprechen von unbegrenzten Möglichkeiten“. Dort begegnet er dem Leben der Menschen in einer gewaltigen Offenheit und Direktheit. Mit dieser Offenheit teilt er nun selbst seine persönlichen und schmerzvollen Momente mit fremden Lesern.
Es ist eine Geschichte über die Orientierungslosigkeit und die Schwierigkeiten eines jungen Mannes, den Erfolg zu finden. Der Autor stochert in den Erinnerungen an seine Jugend, liefert detailreich Ereignisse und Dialoge und versucht ein Gefühl zu von damaligen Empfindungen widerzugeben. Fast nüchtern schaut er auf die vielen Jahre zurück, vom Beginn seines Erwachsenenlebens bis zum Leben als verheirateter, erfolgreicher Schriftsteller.
Vom Suchen und Schreiben
Er schreibt über das Schreiben an sich, über die Eintönigkeit der Tage, über seine Beschäftigung mit dem Gefundenen und über die Zeit, die dabei verstreicht und ihm oft nutzlos erscheint. Er lässt den Leser teilhaben an seinen Beziehungen, familiären Katastrophen und an seinem Alltag zwischen Wien und Wolfurt. Chronologisch schildert der Autor seinen Alltag und die Gewohnheiten seiner Liebespartner. Zwischendurch reihen sich auch die kleinen Schnipsel über das banale Leben der Menschen, das sich im Papiermüll sammelt.
Prägend sind seine Erlebnisse im Altpapiercontainer, die Freude an den herausragenden Funden bleibt, aber genauso die Zufriedenheit über die „Runden“, in denen er leer ausgeht. Denn Erfolge im Suchen und Schreiben wechseln sich ab: „Ich habe nie besser gearbeitet als an Tagen, an denen ich nichts gefunden habe. […] Hingegen an Tagen mit großen Funden brachte ich am Schreibtisch nicht viel zustande. Dann war ich den ganzen Nachmittag mit Aufarbeiten beschäftigt und auch hinterher in Gedanken beim Gefundenen.“
Geiger betrachtet die Tätigkeit des Müllsammelns aus einer gewissen Distanz heraus, beschreibt seine Beweggründe, ohne sich zu rechtfertigen. Das Gefundene wird nach Inhalt und Gewicht abstrahiert und auch die Frage nach der Privatsphäre stellt sich, wenn Geschriebenes von Personen gelesen wird, für die es nicht bestimmt war. Doch der Abfall verwandle sich eben nicht wieder in etwas Privates, sondern in ein Dokument, dessen sich Geiger zur Durchsicht verpflichtet fühle.
Abdrängen in die Nichtigkeit.
„Das glückliche Geheimnis“ ist eine Zusammenfassung seiner Beobachtungen über die Welt und die Menschen um ihn herum und natürlich über sich selbst und seine Niederlagen. Beziehungen zerbrechen, geschriebene Bücher sterben den „plötzlichen Buchstod“. Die Unsicherheit zieht sich nicht nur durch die „schlechten“ Jahre. Immer wieder findet Geiger bewegte Vergleiche für seinen schwierigen Aufstieg als Autor. „Dass der Verlag gar nichts für das Buch getan hatte, empfand ich als ein mit versteckten Mitteln betriebenes Abdrängen eines jungen Menschen in die Nichtigkeit. Die Signale waren eindeutig, im Verlag empfanden sie mich als so entbehrlich wie den Dreck auf der Stiege.“ Doch der Autor hält an seinem Durchbruch fest und er gelingt ihm. Für seinen vierten Roman „Es geht uns gut“, erhält er den Deutschen Buchpreis. Was folgt sind Reflektionen seines Erfolgs: Kontrollverlust und ein möglicher Burn-out. Das Sammeln im Müll bekommt jetzt ein anderes Gewicht, wird zum „bizarren Widerspruch“ zum Leben in der Öffentlichkeit.
Doch damit endet die Geschichte nicht, denn den Autor zieht es immer wieder zurück zu den Altpapiercontainern, analysiert die Veränderungen im Müll der Gesellschaft und sinniert über die Wahrnehmungen seiner Tätigkeiten. Eine Geschichte „über sich selbst“, das sei „schwierig“, beschreibt er, „schwieriger als ein Roman“. „Das Erzählte ist nie wahr“, auch wenn sich der als autobiografisch fungierende Autor um „Aufrichtigkeit“ bemühe.
Das glückliche Geheimnis: Erschienen am 10. Jänner im Hanser Verlag, 240 Seiten.
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