Psychiater Lingg: “Medizin für den Blues gefällig?”

Gastbeitrag: Albert Lingg (74) über das neue Rolling-Stones-Album „Hackney Diamonds“ und seine Leidenschaft für die englische Band.
Vielleicht ist in dem alten Hund noch Leben“, meinte Keith Richards auf die Frage nach der neuen LP der Stones gewohnt launig. Mit ihren Tourneen hielten sie uns zwar in Laune und zeigten gute Form, neue Songs ließen jedoch auf sich warten.
Das Warten auf frischen Stoff (dieser Art) verkürzten manche früher durch Auslandsfahrten, was auch Charme hatte. Ich fuhr 1969 etwa mit der Single „Honky Tonk Women“ auf dem Beifahrersitz meines 2CV von Frankfurt hochgestimmt heimwärts, oder mit „Let It Bleed“ als mein Weihnachtsgeschenk triumphierend nach Hause, wo die Scheibe noch nicht erhältlich war. Damals war noch nichts mit Streamen oder Online-Shopping – für mich noch immer ein No-Go. Wie viel schöner, die neue LP im Musikladen Feldkirch abzuholen und dazu die immer spannenden Kommentare von Charlie und Wolfram mitzunehmen.

Zeitreise durch die Jahrzehnte
„Hackney Diamonds“ ist das erste Studioalbum der Rolling Stones seit 18 Jahren. Auf zwei der zwölf neuen Songs ist der 2021 verstorbene Drummer Charlie Watts zu hören, dem sie die Platte auch gewidmet haben. Die meisten Kritiker sind überrascht und begeistert. Auch wer sich vorher an der raffinierten Promotion der LP stieß, musste zugeben, dass „in dem alten Hund“ noch viel Leben steckt. Für mich sind die zwölf Songs wie eine Zeitreise durch sechs Jahrzehnte und die verschiedenen Stile der Band. Schon die erste Nummer ist ein Kracher a la „Start Me Up“, melancholische Tracks wechseln mit brachialen, zum punkigen „Bite My Head Off“ liefert Beatle Paul ein großartiges, verzerrtes Bass-Solo. In Country- Balladen hat Mick den gewohnten Jammer um seinen oder anderer Liebeskummer, Keiths mit brüchiger Stimme gesungenes Lied steckt voller Altersweisheit: „Liegt meine Zukunft ganz in der Vergangenheit?“. „Sweet Sounds Of Heaven“, mit Stevie Wonder am Piano und Lady Gaga im Duett mit Mick – ein Gebet, und zum Schluss der „Rolling Stone Blues“, eine Reverenz an Muddy Waters, dem sie laut Keith den Bandnamen klauten. Für mich fällt kein Titel ab, man spürt, dass sie in einem Schwung aufgenommen wurde und die Jungs selbst Freude hatten.

Das musikalische Gedächtnis
Warum man derart von einer Band fasziniert bleibt, kann ich nur für mich beantworten. Offensichtlich trafen die Stones früh meinen Nerv und instrumentierten meinen Weltschmerz, pubertären Aufruhr oder Liebeskummer. Die meisten Menschen verbinden Lebensereignisse mit damals favorisierter Musik. Unser musikalisches Gedächtnis löst so beim Hören bestimmter Musikstücke Flashbacks aus, wir erleben wie in einer Rückblende gefühlsintensive Situationen wieder. Beispiele gefällig? Ich sitze etwa beim Hören von „Who´s Driving Your Plane?“ wieder wie zu Internatszeiten im Bregenzer Milano, wo ich die Musicbox diese bis dahin schrägste Nummer der Stones so häufig spielen lasse, bis mir Gäste mit Rauswurf drohen. Was tief im Gehirn gespeicherte Musikstücke spielen können, irritiert oder fasziniert nicht nur den Psychiater: Bei einem schmerzhaften Abschied hörte, nein halluzinierte ich auf dem Münchner Bahnhof überlaut „Love In Vain“, hörte dabei nicht nur den Song, sondern das Ausklinken des Tonarms meines primitiven Recorders und die Kratzer meiner rauf und runter gespielten Scheibe mit! Übrigens behalten wir im Alter musikalische Erinnerungen am längsten!

Mehr als Drugs, Sex und Rock’n’Roll
Meine Schwärmerei für die Stones hat mir auch schon Kritik eingebracht: Wie diese Burschen mit ihren langen Sündenregistern mein Idol sein könnten? Sind doch kein Vorbild für die Jugend! Haben diese Millionäre noch nicht genug Kohle gescheffelt? Nun, ich eifere gewiss nicht ihrem Lebensstil nach, als Altersmediziner könnte man sich allerdings von ihnen einiges abschauen, etwa wie man die Kurve doch noch kriegt. Auch dürfen sie nicht auf „Sex, Drugs und Rock’n‘Roll“ reduziert werden, geben sie doch auf ihren Auftritten ihr Letztes.

Die Rolling Stones haben die Altväter des Blues, mit deren Kompositionen sie die ersten Erfolge hatten, immer wertgeschätzt, ihnen über die Tantiemen zu unerwarteten, späten Einkünften verholfen, mit ihnen Konzerte bestritten, manche im Alter unterstützt. Auch Bobby Keys, viele Jahre ihr blendender Saxophonist, war zunächst irritiert, traf die jungen Stones auf einem Jahrmarkt in Texas, als sie Buddy Hollys „Not Fade Away“ spielten. Regte sich auf, „was diesen blassen Typen mit ihrer komischen Art zu sprechen und den dünnen Beinchen einfalle, einfach hierherzukommen und mit Buddys Song Geld zu machen“. Bald danach blies er sich für „Sweet Virginia“ die Seele aus dem Leib! Im gesetzten Alter zeigen Mick und Keith als Großväter erstaunliches Geschick ihre Patchworkfamilien bei Laune zu halten. Keith schrieb ein nostalgisches Büchlein, gelungen illustriert von Tochter Theodora, über seinen Großvater Gus, der ihn in die Welt der Gitarren einführte. Unterschätzt wird auch die Kunst der Glimmer Twins den Zeitgeist oder Krisen aller Art in Songs wie „Satisfaction“, „Mother´s Little Helper“ oder „Back To Zero“ zu destillieren.

Gute Gefühle
Nun, um auf den Anfang zurückzukommen: Musik – jedem die Seine – löst nicht alle Rätsel der Welt, wie Leo Tolstoi meinte, stellt uns jedoch wieder auf und gibt gute Gefühle, oder belebt wieder unseren Kampfgeist. Schon Peter Handke riet den Schauspielern seiner Publikumsbeschimpfung zum Aufwärmen „Tell Me“ von den Stones hören.
Zur PERSON
Dr. Albert Lingg war von 1981 – 2014 Leiter einer psychiatrischen Abteilung und Chefarzt im LKH Rankweil mit Schwerpunkten Sozialpsychiatrie, Geriatrie und Suizidprophylaxe. Seit seiner Pensionierung engagiert er sich vermehrt um Aufklärungsarbeit in seinem Fachbereich und unterstützt unter anderem die Aktion Demenz als Fachberater.