Im Wandel von Zeit und Orten

Mit der Premiere von „Der Kirschgarten“ hat das Café Fuerte Anton Tschechows gesellschaftskritische Komödie in den Bregenzerwald gebracht.
Im länglichen Raum des Alten Bahnhof in Doren sitzt das Publikum in zwei Reihen nebeneinander. Am Boden liegen die Kronleuchter, und die sieben Schauspieler sind auch schon da, am anderen Ende des Raums, wo sie sich während des Stücks abwechselnd zurückziehen und ihre Stimmen für den gesummten Sound und den A-cappella-Chor hergeben (Nikolaus Feinig-Hartmann).
Nostalgie
Mit dem kleinen hellhörigen Gebäude hat das Cafe Fuerte wirklich einen idealen Ort gefunden, um Anton Tschechows über hundertjährige Figuren lebendig werden zu lassen. Hier gibt es echte Wände, die nostalgisch umarmt werden in der Erinnerung an ein altes Zuhause, und gedanklich ist der Kirschgarten nur durch das Glas der Fenster getrennt in den Tiefen des Bregenzerwaldes. Das Haus wird zur Schutzhülle vor der realen Welt – ein Rückzugsort für die Figuren, die sich hier vor den gesellschaftlichen Umbrüchen verstecken und in ihre gewohnten Rollen verfallen, die den einfallsreichen Kostümen geschuldet sofort klar ersichtlich sind. Es ist Nacht. Lachend kommt die Gesellschaft zurück auf den Gutshof, den die Besitzerin Ranéwskaja (Katharina Uhland) im Begriff ist zu verlieren. Eine Tatsache, die ihr so fern ist wie alle gutgemeinten Vorschläge von Lopáchin (Stephan Weigelin), der als Nachkomme ehemaliger Leibeigener der Familie grundsätzlich nicht ernst genommen werden kann. Die starken Gegensätze der Charaktere werden auch in der Pflegetochter Warja (Johanna Köster) und der aufgedrehten Tochter Ánja (Meda Banciu) deutlich: Beide träumen von einem von Konventionen befreiten Leben, doch während Ánja in ihrem lebensfrohen Gemüt offen und positiv den notwendigen Veränderungen gegenübersteht, schafft es Warja nicht, aus ihrer Ernsthaftigkeit und Enttäuschung auszubrechen.

Bedrohliche Realität
Die gemeinsame Zeit vergeht schnell mit wilder Choreografie, kleinen persönlichen Rangeleien, bemerkenswerten Luftsprüngen, Momenten der Stille, den durchschimmernden Tragödien vergangener Tage und mit benebeltem Humor, der dem finanziellen Ruin vorerst seine bedrohliche Realität entzieht. Sentimental und buchstäblich halten die Figuren an den Mauern fest, deren Umwidmung gar nicht in Frage kommt. Lopáchins Möglichkeiten zur Rettung des Guts wirken wie aus einer anderen Welt und sind nicht zu begreifen für Ranéwskaja, die in hellen Momenten ihre instabile Welt kaum auszuhalten scheint. Trofímow (Tobias Fend) philosophiert von seinen studentischen Theorien, und der grazile Diener Firs (John Kendall) bewegt sich in kleinen Schritten zwischen den anderen Figuren hindurch und doch in seiner ganz persönlichen Parallelwelt mit eigener Sprache. Hin und wieder tritt er sanft aus seiner Dekorationsrolle heraus und wird liebevoll umsorgt, auch wenn er am Ende als Teil des verlorenen Anwesens zurückbleibt.
In der reduzierten Inszenierung von Danielle Fend-Strahm brauchen die Figuren keine gefüllten Hintergründe, weil sie selbst die Kontraste und Vielschichtigkeiten von Tschechows Charakteren im fast leeren Raum ausbreiten und weil Firs als wandelndes Requisit auf besonders subtile Weise bereits alle Aufmerksamkeit auf sich zieht und wie ein unsichtbarer Geist die Klappsessel behutsam immer genau dort platziert, wo das Mobiliar gerade gebraucht wird. In seiner Rolle als Ranéwskajas hohler Bruder wirkt Gregor Weisgerber zwar glaubhaft, aber leicht eintönig. Nach einer Übersetzung von Vera Bischitzky ist dem Theater Café Fuerte eine absurd-witzige und mitreißende Umsetzung von Tschechows letztem und auf den gesellschaftlichen Wandel fokussierten Theaterstücks gelungen.