Die NEUE und Pro Vorarlberg

1979: Wie sich Positionen der Tageszeitungen zu Initiative für mehr Autonomie des Landes unterschieden.
Die ab 1970 herrschende SPÖ-Alleinregierung auf Bundesebene verstärkte in den konservativen westlichen Bundesländern die Forderung nach einem ausgeprägteren Föderalismus. In Vorarlberg waren diese Tendenzen historisch bedingt besonders wahrnehmbar. Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ) hatte zwar immer wieder Reformen versprochen, aus Sicht des Ländles gingen diese aber in die falsche Richtung: „Sein Geschick, zentralistische Machtpolitik in Föderalismusphrasen zu verpacken, mag in acht Bundesländern ausreichen. In Vorarlberg nicht“, konstatierte NEUE-Chefredakteur Hans-Henning Scharsach 1979 in einem Kommentar.
Gute alte Feinde
Antipathie gegen die rote Zentralmacht im Osten musste man in Vorarlberg nicht lange suchen. Die „Fußach-Affäre“, in der 1964 das Bodenseeschiff „Vorarlberg“ von einer wütenden Volksmasse notgetauft wurde, um die Benennung nach Karl Renner zu verhindern, war erst wenige Jahre her. Grundsätzlich bestand ein lange zurückreichendes, bereits in der Ersten Republik kultiviertes tiefes Misstrauen gegenüber der Bundeshauptstadt und den dort getroffenen Entscheidungen. Außerdem fanden sich im damaligen Landesamtsdirektor Elmar Grabherr und im langjährigen Chefredakteur der „Vorarlberger Nachrichten“, Franz Ortner, zwei wesentliche Triebfedern für die Forderung nach einer größeren Autonomie für das Ländle.
Klare Fronten
Die von ihnen ventilierte Initiative „Pro Vorarlberg“ provozierte bereits mit ihrer Bezeichnung, da sie sich auf die Schweizer Kampagne zur Anschlussvolksabstimmung von 1919 bezog, als Vorarlberg bekanntlich vergeblich die Eingliederung ins wohlhabendere Nachbarland anstrebte. Man forderte ein eigenes Statut für Vorarlberg und mehr Kompetenzen vom Bund. Ein entsprechendes Volksbegehren resultierte 1979 in einer Volksabstimmung. Die regierende ÖVP stand der Angelegenheit gemeinsam mit der FPÖ nicht abgeneigt entgegen. Landeshauptmann Keßler betonte zwar, dass er auf die Bundesverfassung angelobt und dieser verpflichtet sei, eine Initiative zur Änderung derselben aber noch keinen revolutionären Akt darstelle. Die SPÖ war naturgemäß gegen eine größere Unabhängigkeit vom Bund – wo sie im Gegensatz zu Vorarlberg damals eine nennenswerte Rolle spielte – und kampagnisierte auch entsprechend. Man ortete im Forderungsprogramm der Initiative, das weitreichende Gesetzgebungskompetenzen für den Landtag bis hin zum Rundfunk forderte, separatistische Tendenzen.

Der weithin geachtete Jurist Elmar Grabherr, ehemaliger Nationalsozialist und langjährige rechte Hand von Landeshauptmann Herbert Keßler (ÖVP), glaubte an die Überlegenheit der Vorarlberger und galt seinen Gegnern daher als alemannischer Chauvinist. Die „VN“ wiederum hatten bereits vor Ortners Zeit als Chefredakteur mit ihrer Kampagne vor der „Fußach-Affäre“ Partei gegen den Bund ergriffen. Auf diesen Ressentiments versuchte nun „Pro Vorarlberg“ aufzubauen.
Zeitungsdifferenzen
Die „VN“ hätten angesichts von Ortners Engagement für die Autonomiebewegung die Angelegenheit „mit Vehemenz“ unterstützt, konstatierten die Historiker Ulrich Nachbaur und Alois Niederstätter 2005 in einem Beitrag, in dem es weiter heißt: „Dies erzeugte beim Konkurrenz-Medium, der NEUE, eine entsprechende Distanzierung und kritische Berichterstattung gegenüber der Initiative.“
NEUE-Chefredakteur Scharsach ortete in der Initiative neben Vertretern berechtigter Forderungen auch „kleinkarierte Separatisten“. Diese relative Distanz schlug sich nicht zuletzt in Karikaturen des Hauszeichners der NEUE, Dieter Zehentmayr, nieder, der später international erfolgreich wurde und leider bereits 2005 verstarb. In einem Bild zeichnete er Grabherr und Ortner, die versuchten, das ausgegangene Feuer unter dem „Pro Vorarlberg“-Kessel wieder zu entfachen.
Am Ende ausgesessen
Das Sujet hatte Zehentmayr nicht grundlos gewählt: Nach der Volksabstimmung verlor die Autonomiebewegung deutlich an Impetus. Das lag zum einen daran, dass man sich mehr Zusprache als die letztlich erreichten 69,3 Prozent erhofft hatte – sie entsprachen dem Wählerreservoire von ÖVP und FPÖ –, zum anderen saß die SPÖ-Alleinregierung im Bund die Sache mangels überregionaler Relevanz aus.
Letztlich scheiterte das zweite „Pro Vorarlberg“ vor allem am mangelnden Willen der meisten anderen ÖVP-geführten Bundesländer, sich der Initiative inhaltlich anzuschließen. Die chauvinistische Note von „Pro Vorarlberg“ vermochte nur in Tirol dezente Sympathien zu wecken. Die NEUE konstatierte: „Fraglich ist auch, ob es klug ist, aus der einstmals geschlossenen Front jener Länder auszubrechen, die Föderalismus bisher stets als gemeinsames Anliegen betrachtet haben.“
Die Zerrissenheit zwischen mehr Föderalismus für alle und einer größeren Autonomie nur für Vorarlberg hatte sich auch in der Formulierung der Abstimmungsfrage niedergeschlagen: Die Vorarlberger hatten darüber zu entscheiden, ob die Landesregierung mit dem Bund verhandeln sollte, um „im Rahmen des österreichischen Bundesstaates dem Land (den Ländern) mehr Eigenständigkeit“ zu sichern. Tatsächliche Verhandlungen gab es jedoch nie. Vorarlberg schwenkte rasch wieder auf den realpolitisch durchsetzbaren Weg der gemeinsamen Länderforderungen ein. Diese führten 1984 zu einer kleinen Verfassungsreform zugunsten der Länderzuständigkeiten, durch die die Frage der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern aber freilich nicht nachhaltig gelöst werden konnte.