Vom Lkw, einem Fleischer und dem Marienkäfer

Heidi Salmhofer mit ihrer Kolumne in der NEUE am Sonntag.
Wenn ein Lkw ohne Lastkraft, sondern nur als Wagen durch die Gegend fährt, kommt mir eine Kindheitserinnerung hoch, die mich bis heute verfolgt und mich mit bösem Blick erinnert, für Schwächere einzustehen. Vor langer Zeit verbrachte ich ein Jahr meines Lebens in einem kleinen Ort im Burgenland. Ortschaften in diesem Teilbereich von Österreich, zeichneten sich damals dadurch aus, dass sich alle Häuser an einer einzigen Straße entlang reihten. Die Eingänge nach vorne ausgerichtet, in Richtung Zivilisation, hinten, im Anschluss an den Garten, folgte die große wilde Welt. Ich fing mit meinen Freunden in dem Bach hinter dem Haus Fische, kaum größer als mein kleiner Zeh. Und da ich damals sechs Jahre alt war, war dieser wirklich sehr klein.
Die armen Tiere schütteten wir mitsamt dem Bachwasser in ein Glas und versuchten, sie dann „vorne“, dort wo Menschen entlang gingen, zu verkaufen. Ziemlich erfolglos. Ein Mann mit Hut und Stock guckte sich die Gläser mit dem wuselnden Inhalt an, zog die Augenbrauen hoch und meinte, wir sollten den armen Tieren wieder die Freiheit schenken. Das taten wir dann auch, gefrustet vom Misserfolg unserer Verkaufsaktion und uns nicht dessen bewusst, dass jener behütete Mensch genau das Richtige tat. Sich einsetzen für Schwächere. Auch wenn es „nur“ minizehengroße Fische waren. Jener Ort ist mir sonst als sehr brachial in Erinnerung geblieben. Nicht nur einmal fischten wir Kinder tote Babykätzchen aus dem Bach hinter dem Haus und begruben sie traurig.
Einer meiner Spielkameraden war der Sohn des Nachbarn. Eines Fleischers, der immer wieder einmal nachmittags Schweine in seinem Hof schlachtete. Das Quieken hörte man durch das ganze Dorf. Jener Nachbarsjunge war im Umgang mit Tieren recht abgehärtet. Ein Jahr jünger als ich war der kleine Bub und pflegte regelmäßig die Hofkatzen am Schwanz zu packen und dann Karussell mit ihnen zu spielen. Er hat sich gefreut, die Katzen weniger. Einmal saß er mit mir im tiefen Gras, wir spielten wieder einmal unser Lieblingsspiel „Waisenkinder“, meisterten unser Leben ohne Erwachsene und kochten uns Löwenzahnsuppe mit Erdstreusel. Da schaute er mich an, öffnete seine Faust und offenbarte mir einen Marienkäfer. Ohne Vorwarnung riss er dem Tier beide Flügel aus. Ich starrte auf den Käfer und brachte kein Wort heraus. Wenn jetzt so ein unvollständiges Transportvehikel im Stau vor mir steht, erinnert es mich an diesen einen flügellosen Käfer. Heute mach’ ich den Mund auf, wenn ich sehe, dass jemand einem anderen die Flügel stutzt. Denn die Welt braucht Marienkäfer mit Flügel.
Heidi Salmhofer ist freiberufliche Theatermacherin und Journalistin. Sie lebt als alleinerziehende Mutter mit ihren Töchtern in Hohenems.
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