„Du wohnst in einem brennenden Haus“

Jede dritte Frau in Österreich ist von körperlicher Gewalt betroffen. Zwei Opfer von Gewalt erzählen ihre Geschichte.
Angelika Wagner (Anmerkung: Name wurde von der Redaktion geändert) hat Tränen in den Augen, als sie ihre Geschichte erzählt. Vor ihr auf dem Tisch liegt ihr Mobiltelefon. Sie scrollt durch ihre Fotos. Darauf sind die Spuren davon zu sehen, was sie erlebt hat: große blaue Flecken und Blutergüsse auf ihren Armen und an ihrem Oberkörper. Sie scheint es selbst kaum zu glauben. Das passiert doch anderen, aber nicht mir, war der Gedanke, der ihr damals durch den Kopf gegeistert ist.
“Hätte ihm nie Gewalt zugetraut”
Häusliche Gewalt ist keine Seltenheit. Jede dritte Frau in Österreich ist laut einer Studie der Statistik Austria von Gewalt betroffen. Wagner ist eine davon. Ihrem Ehemann, mit dem sie schon über 20 Jahre verheiratet ist, hätte sie nie Gewalt zugetraut. Schließlich wurde sie erst im Rahmen des Trennungsprozesses Opfer von Gewalt. Grund für ihren Trennungswunsch war ein anderer. Er habe ihre Entscheidung, sich zu trennen, nicht akzeptieren wollen, erzählt sie. „Er hat gesagt, dass er an der Trennung zerbricht.“ Als ihr Ehemann das erste Mal gewalttätig wurde, habe sie das nicht realisieren können. „Du wirst geschlagen und fühlst dich schuldig, und dir tut die Person leid, die dich schlägt.“ Anschließend entschuldigte er sich, und sie hatte Verständnis: „Es hat mir leid getan zu sehen, wie hilflos er ist, wenn er das macht.“
Während Schlaf gepackt
Doch es blieb nicht bei einem Mal. Häusliche Gewalt ist ein schleichender Prozess. „Zu Beginn fängt es mit Drücken an, dann mit Schubsen und irgendwann mit dem ganzen Körper“, so Wagner. Dies wiederholte sich in Streitsituationen über einen Zeitraum von etwa sieben Monaten immer wieder. Er packte sie sogar, während sie schlief, und fragte sie, warum sie ihm das antue, erinnert sie sich.
Was sie in diesen Monaten erlebte, blieb auch in ihrem Umfeld nicht unbemerkt. Etwa ihr Chef fragte Wagner nach den blauen Flecken. Sie wurde in ihrem Bekanntenkreis angesprochen, warum sie während des heißen Sommers lange Ärmel trug, mit denen sie die Verletzungen kaschierte. Wenn er bei Streitigkeiten gegen die Tür schlug, erkundigten sich auch mal die Nachbarn bei ihr. Sie rettete sich mit Ausreden. Die über 50-Jährige schämte sich, Opfer von Gewalt zu sein. Nur einmal traute sie sich zur Hausärztin und war ehrlich. „Die Ärztin hat zu mir gesagt: Das ist aber kein normaler Streit!“, erzählt sie. Auf deren Rat, den Ehemann anzuzeigen, hörte sie jedoch nicht. Mit dem Gericht hatte sie schließlich noch nie zu tun. Außerdem nährte sie die Hoffnung, die Beziehung retten zu können.

Am Gericht kam sie schlussendlich trotzdem nicht vorbei. Denn das Ehepaar befindet sich mittlerweile im Scheidungsprozess. Trotzdem wohnen die zwei noch gemeinsam in den gleichen vier Wänden, in unterschiedlichen Zimmern. Gewalttätig ist er nicht mehr. Trotzdem hat sie täglich Angst. „Du wohnst in einem brennenden Haus, und die Rauchmelder schlagen an, aber du bleibst dort“, erzählt sie. Doch warum macht sie das? Weil sie sich damals gegen die Anzeige entschieden hat, konnte sie kein Betretungs- oder Annäherungsverbot bewirken. Damit das Aufteilungsverfahren, wie Vermögensaufteilung oder Wohnrecht, nicht zu ihrem Nachteil verläuft, wurde ihr geraten, nicht aus der gemeinsamen Wohnstätte auszuziehen.
Anzeigen als Grenze
Wenn sie die Uhr zurückdrehen könnte, würde sie einiges ändern, reflektiert sie. „Das Problem ist, dass Frauen bei häuslicher Gewalt keine Grenzen setzen“, so Wagner. Dem stimmt auch Rechtsanwältin Eva Müller zu. Opfer würden, wie auch Wagner, oft lange zögern, eine Straftat anzuzeigen – etwa wegen den Versprechungen der Täter, sich zu bessern, oder aus Scham oder Schuldgefühlen. Die Befürchtung vieler, dass sich Täter nach einer Anzeige rächen könnten, sieht die Rechtsexpertin jedoch eher als unbegründet an. „Wenn ein Gewalttäter ein Opfer findet, das keine Grenzen aufzeigt, sich also nicht wehrt und keine Anzeige erstattet, fühlt er sich nicht selten zu weiteren Gewalttaten ermutigt, während im Fall der Anzeige dem Täter bewusst wird, dass ihm eine gerichtliche Strafe droht, weshalb er von Angriffen absieht“, erklärt sie.
252 Nächte mit Messer am Bett
Eine solche Grenze gesetzt hat Sarina Gruber (Name geändert), indem sie sich trennte und auszog. Ihre Geschichte zeigt mehrere Parallelen zu Wagners Geschichte. Auch sie führte eine langjährige Beziehung von über zehn Jahren mit ihrem Ex-Lebensgefährten. Zu Beginn registrierte sie die Gewalt nicht. Schließlich war sie verliebt in einen charismatischen Mann, teilte schöne Erlebnisse mit ihm. Die Art der Gewalt, der sie ausgesetzt war, war subtiler und weniger sichtbar als Schläge. Es begann schleichend und spitzte sich zu. Sie war Opfer psychischer Gewalt. Ihr Körper hatte zwar keine blauen Flecken wie bei körperlicher Gewalt, zeigte ihr jedoch trotzdem irgendwann, dass es zu viel war. Aufgrund eines Erschöpfungszustandes verschrieb ein Arzt ihr den Krankenstand. „Der Hausarzt hat gesagt, dass er nichts Körperliches außer ein Hormonungleichgewicht findet“, sagt sie. Sie zeigte typische Burnout-Symptome, doch war sich sicher, dass sie kein Burnout hatte.
Später fand sie heraus, dass die Symptome aus jahrelangen erlebten Traumata resultierten. „Als ich zum ersten Mal ein Buch über psychische Gewalt und Narzissmus gelesen habe, konnte ich alles darin markieren, weil es auf mich zutraf“, erzählt sie. Aus geplanten wenigen Wochen Krankenstand wurden fünf Monate. Sie verlor ihren Job.
Sie kommunizierte ihrem Partner über längere Zeit, dass sie sich trennen möchte, und zog bei geschlossener Tür in ein anderes Zimmer. Sie fürchtete, dass er handgreiflich werden könnte. „Ich habe 252 Nächte mit einem Messer neben der Matratze geschlafen“, erzählt sie. „Ich war unten, ich war am Boden. Ich hatte den Gedanken: Entweder ich gehe und bekomme seine Wut ab, oder ich beende mein Leben.“ Dann hat sie das Wichtigste eingepackt und ist ausgezogen. Die Angst hielt dann noch drei Jahre an. Die Zeit der Trennung ist laut der ifs Gewaltschutzstelle in Gewaltbeziehungen unter anderem die Zeit mit der größten Gefahr für die Beteiligten. Nachdem Gruber ihn verlassen hatte, stalkte er sie. Sie zog 14 Mal um und musste mehrmals die Handynummer wechseln, weil er die Nummer herausfand. Er wollte sie zurück. „Für ihn war es am schlimmsten, dass ich gegangen bin, weil es für ihn wichtig war, dass er entscheidet.“

Fehlende Identität
„Es gehört zu einer Gewaltbeziehung, dass ein Täter das Opfer so manipuliert, wie er es haben will“, erklärt sie. Irgendwann hinterfragte sie während der Beziehung ihre Handlungen aus Angst vor seiner Reaktion ständig. Er bewirkte, dass sie ihre Freunde nicht mehr traf. Diese erklärten ihren Rückzug mit Verliebtheit. „Du denkst nur noch, was muss ich tun, damit es für ihn in Ordnung ist“, erklärt sie. „Meine Identität war nicht mehr da.“ Die über 40-Jährige hatte Angst vor den Konsequenzen. Laut wurde seine Stimme nie, erzählt sie. Psychische Gewalt passiert unterschwellig und nur dort, wo es andere Leute nicht mitkriegen. Er reagierte gekränkt, verletzt, mit Schweigen und Sex-Entzug, wenn sie etwas tat, was ihm nicht gefiel. „Ich habe seinen Blick nicht vergessen. Er konnte ein liebenswerter Mann sein und hatte einen treffenden kalten Blick.“
Mittlerweile kann Gruber ihre Geschichte aus einem positiven Blickwinkel betrachten. Nach dem Auszug ging sie den Jakobsweg, machte Reisen und fand einen neuen Job. „Ich habe fünf Jahre gebraucht, um auf die Füße zu kommen.“ Heute sieht sie es als wertvoll an, dass sie zu dem Mensch geworden ist, der sie ist. „Ich habe mein Leben bekommen.“ Ihre Geschichte zeigt, dass ein Ausweg möglich ist. Betroffenen, die aktuell von Gewalt betroffen sind, rät sie, sich jemandem anzuvertrauen. Auch wenn es nur der Busfahrer oder der Postbote sei.
Hilfe gesucht?
Anlaufstellen
Selbsthilfegruppe Sonnenblume: sonnenblumeshg@gmail.com
ifs Gewaltschutzstelle: +43 5 1755-535
Frauenhelpline gegen Gewalt: +43 800 222 555
Amazone: +43 5574 45 801
Femail: +43 5522 310 02
Telefon Seelsorge: Notrufnummer 142
Wie sich Betroffene schützen können
Rechtsanwältin Eva Müller spricht über die rechtlichen Möglichkeiten von Betroffenen, um sich vor Gewalt zu schützen.
1. Wie kann sich ein Opfer bei akuter Gewalt schützen?
Eva Müller: Bei akuter Gewalt ist schnelles Handeln wichtig – das heißt den 133 Polizeinotruf wählen, die Straftat zeitnah bei der Polizei anzeigen, einen Arzt aufsuchen und Verletzungen attestieren und fotografieren lassen, um sie für eine mögliche Strafanzeige beweissicher dokumentiert zu haben. Auch empfehle ich, rechtliche Beratung in Anspruch zu nehmen. Falls eine Rückkehr in die Wohnung nicht möglich ist und Freunde oder Verwandte nicht aushelfen können, bieten Frauenhäuser Schutz vor Bedrohung.
2. Wie können sich Betroffene längerfristig schützen?
Die Polizei kann noch vor Ort einer Person, von der eine Gefahr ausgeht, die Rückkehr in die Wohnung verbieten und ein Annäherungsverbot aussprechen. Das schützt das Opfer fürs Erste überall, wo es sich aufhält. Die Polizei nimmt in solchen Fällen dem Gefährder in der Regel die Wohnungsschlüssel ab. Das Annäherungs- und Betretungsverbot wird für zwei Wochen ausgesprochen und verlängert sich auf vier Wochen, wenn innerhalb der ersten zwei Wochen bei Gericht eine sogenannte einstweilige Verfügung beantragt wird. Dann darf der Gefährder den festgelegten Schutzbereich nicht betreten. Länger andauerender Schutz bis zu sechs Monate oder bis zum Abschluss eines Scheidungsverfahrens – kann durch eine einstweilige Verfügung des Bezirksgerichtes erlangt werden.
3. Wie lange nach Ausübung der Gewalt kann der Täter angezeigt werden?
Es gibt keine Frist für die Anzeige bei der Polizei, allerdings wird die Staatsanwaltschaft kein Verfahren einleiten, wenn die Tat bereits verjährt ist. Grundsätzlich richtet sich die Verjährungsfrist nach der Strafdrohung. So verjähren beispielsweise leichte Körperverletzungen nach drei Jahren, eine schwere Körperverletzung oder ein sexueller Missbrauch von Unmündigen nach fünf Jahren, eine Vergewaltigung nach zehn beziehungsweise unter bestimmten Umständen zwanzig Jahren. Bei Gewalt-, Freiheits- und Sexualdelikten gegen Minderjährige – wenn also jemand bis zum 18. Lebensjahr Opfer einer solchen Tat geworden ist – beginnt die Verjährungsfrist erst mit Vollendung des 28. Lebensjahres des Opfers zu laufen, allerdings ist die Nachweisbarkeit bei einer lang zurückliegenden Tat in der Regel erschwert. Es macht also Sinn, die Anzeige möglichst zeitnah zu erstatten.
4. Welche gewalttätigen Handlungen können angezeigt werden?
Die wichtigsten Delikte, die Opfer zur Anzeige bringen können, sind: Körperverletzung nach § 83, Schwere Körperverletzung nach § 84, Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen nach § 85, Körperverletzung mit tödlichem Ausgang nach § 86, Absichtliche schwere Körperverletzung nach § 87, Freiheitsentziehung nach § 99, Nötigung nach § 105, Schwere Nötigung nach § 106, Gefährliche Drohung nach § 107, Beharrliche Verfolgung (“Stalking”) nach § 107a, Fortgesetzte Gewaltausübung nach § 107b, Fortdauernde Belästigung im Wege einer Telekommunikation oder eines Computersystems (“Cybermobbing”) nach § 107c, Vergewaltigung nach § 201, Geschlechtliche Nötigung nach § 202, Schwerer sexueller Missbrauch einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205, Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung § 205a, Sexuelle Belästigung und öffentliche geschlechtliche Handlungen nach § 218.