NS-Opfer, die auch später keiner wollte

„Warum musste Oswald Schwendinger sterben?“ ist der Titel einer neuen Publikation des Historikers Gernot Kiermayr.
Er war nicht ganz 22 Jahre alt, als er im KZ Dachau am 15. Juli 1941 angeblich an „Versagen von Herz und Kreislauf“ starb: Oswald Schwendinger, Dornbirner, laut Akten „landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter“, war einer von über 60 Menschen aus Vorarlberg, die während der NS-Zeit als „Asoziale“ oder aufgrund ähnlicher Zuschreibungen zu Tode kamen.
Schwendinger war der Sohn eines Schlossers und einer Hausfrau. Er hatte drei Geschwister. Die Familie lebte zeitweise in einem Haus, das Dornbirner Textilfabrikanten gehörte. In seinem Abgangszeugnis nach der fünften Klassen beschrieb ihn der Direktor der Volksschule Markt Friedrich Schnetzer unter anderem als „geistig nicht ganz normal“. Die schlechte Betragensnote hätte er wegen „Frechheit, Rohheit und Widersetzlichkeit“.
Oswald Schwendinger wurde einige Male wegen Diebstahl verurteilt. Bevor er im November 1940 nach Dachau gebracht wurde, lebte er in einem Wiener Männerheim. Im KZ wurde er als „AZR“ („Arbeitszwang Reich“) klassifiziert und musste den schwarzen Winkel tragen, der ihn als „Asozialen“ kennzeichnete.
Oswald Schwendinger steht in der neuen Publikation von Gernot Kiermayr exemplarisch für eine Gruppe von Menschen, die im Nationalsozialismus als „asozial“ oder „kriminell“ stigmatisiert und ermordet wurde. Der Bregenzer Historiker hat sich für „Warum musste Oswald Schwendinger sterben?“ auf die Spuren dieser Opfer in Vorarlberg begeben und mit der Publikation ein aufschlussreiches und eindrückliches Buch vorgelegt.
Buchpräsentation
Gernot Kiermayr: „Warum musste Oswald Schwendinger sterben?“. Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 18, Vorarlberger Autoren Gesellschaft, 152 Seiten, 19,90 Euro.
Präsentation: Montag, 13. Oktober, Kolpinghaus Dornbirn, Jahngasse 20, 19 Uhr. Es moderiert Johannes Spies (Obmann Johann-August-Malin-Gesellschaft).
Ausgehend von der Armutspolitik in der Monarchie und in der Ersten Republik zeichnet er den Umgang der wechselnden Obrigkeit mit Menschen nach, die aus verschiedenen Gründen außerhalb der Gesellschaft standen. Armut war dabei ein wiederkehrender Aspekt. Von Stigmatisierung über Repression ging es bis zur Verfolgung und schließlich Ermordung dieser Menschen durch die Nationalsozialisten.
Als „asozial“ und „kriminell“ wurden Personen abgestempelt, die häufig vor allem arm bzw. arbeitslos waren, oft nur kleinere Delikte verübt hatten, keinen festen Wohnsitz hatten, Alkoholiker waren oder andere gesundheitliche Probleme hatten. Mit den Nationalsozialisten wurde die Sozial- und Gesundheitspolitik auch zur Rassenpolitik mit dem Ziel, einen rassisch reinen „Volkskörper“ zu schaffen, wie Kiermayr schreibt. Und damit wurden Menschen kriminalisiert, deren einziges „Vergehen“ häufig darin bestand, nicht diesen Normen zu entsprechen.

Neben den historischen Hintergründen zeigt Kiermayr aber auch die Lebensgeschichten einzelner Personen – soweit möglich – auf. Er erzählt von den Menschen hinter den Schicksalen und macht damit diesen Sozialrassismus greifbarer. Ein wichtiges Unterfangen: Damit werden Opfer sichtbar, von denen auch Jahrzehnte später eigentlich niemand etwas wissen wollte. „Eine öffentliche Anerkennung der Opfer sozialrassistischer Verfolgung steht bis heute aus“, stellt Kiermayr fest.

„Dann beginnt die tödliche Verfolgung“
Historiker Gernot Kiermayr über sein neues Buch und warum die diesbezügliche Forschung so schwierig ist.
Warum musste Oswald Schwendinger sterben?
Gernot Kiermayr: Weil er – meine These – bereits als Schüler negativ beurteilt und damit stigmatisiert wurde. Da beginnt unter Umständen eine negative Karriere. Es fing bei ihm wie bei anderen, mit denen ich mich befasst habe, mit Bagatelldelikten an, einer Verurteilung, vielleicht einer nächsten. Schwendinger entzog sich der Einberufung zur Wehrmacht, wurde verhaftet und kam in Dachau ums Leben.
Seit wann beschäftigen Sie sich mit der Verfolgung der „Gemeinschaftsfremden“ im Nationalsozialismus?
Kiermayr: Als „Nebenthema“ der Beschäftigung mit den Morden an psychisch kranken Menschen schon lange, weil es teils dieselben Behörden, die Gesundheitsämter, waren. Neben der Kriminalpolizei haben auch diese die sogenannten Gemeinschaftsfremden verfolgt. Eine Rolle spielten dabei auch die Bürgermeister.
Welche?
Kiermayr: Nachdem nicht mehr die Gemeinden für die Armenversorgung zuständig waren, konnten Bezirks-, Kreisbehörden Menschen präventiv in Haft nehmen. Gemeinden konnten dann – das zeige ich anhand von Klösterle – das Armenhaus auflösen und anderweitig verwenden. Zuvor waren Gemeinden für „heimatberechtigte“ Personen zuständig, wobei sie versuchten, möglichst viele der Bedürftigen loszuwerden. Fremde wurden in andere Gemeinden abgeschoben.

Warum ist die Forschung im Bereich dieser Gruppe so schwierig?
Kiermayr: Weil Menschen dieser Schicht und mit diesen Biographien im allgemeinen selber gar nichts geschrieben haben. Ich habe über 100 Personen untersucht und keine einzige Zeile gefunden, die jemand selber geschrieben hat. Wenn ein Fürsorgezögling im Jugend-KZ Moringen einen Brief an seinen Fürsorger in Bludenz schreibt, dann kann man nicht davon ausgehen, dass das ein Autograph ist. In diesem Sinne wissen wir über diese Menschen nur aus sie negativ beschreibenden Akten. Das hat aber noch eine lange Tradition gehabt.
Inwiefern?
Kiermayr: Als ich 1979 an der Handelsakademie angefangen habe zu unterrichten, gab es noch Schülerbeschreibungsbögen. Da hatte ich einen Schüler, dessen Direktor über den 14-Jährigen geschrieben hatte: „Dieser Schüler ist ein Psychopath.“ Dem war vermutlich nicht bewusst, was er damit in anderen Zeiten angerichtet hätte
Gibt es Unterschiede im Vergleich zur Verfolgung von anderen Gruppen?
Kiermayr: Die gibt es. So waren die Verfolgungsbehörden andere. Bei politischen Häftlingen war die Gestapo zuständig, in dem Fall die Kriminalpolizei. Die stand im Gegensatz zur Gestapo nie unter irgendeinem Rechtfertigungsdruck. Das sieht man an einer im Buch beschriebenen Liste. In dieser wurde wahrscheinlich 1962 in Innsbruck zusammengestellt, wen sie da verfolgt haben. Das waren ziemlich viele. Einen Unterschied gab es auch in der Nachkriegsbehandlung.
Worin bestand der?
Kiermayr: Das Opferfürsorgegesetz gilt nicht für Personen, die als kriminell eingestuft sind und da reicht schon ein zweifacher Diebstahl oder betteln. Auch hatten die „Asozialen“ und die „Berufsverbrecher“ keine Lobby.

In dieser Gruppe waren vor allem Männer betroffen. Warum?
Kiermayr: Über den Grund dafür bin ich mir nicht sicher. Die Vorstudien in diesem Forschungsbereich kommen hauptsächlich von Frauen. Da gibt es eine These: Als Asoziale sind eher Frauen verfolgt worden, als Berufsverbrecher eher Männer. Die These, dass vor allem Frauen als „Asoziale“ verfolgt worden sind, lässt sich für Vorarlberg nicht bestätigen. Für Vorarlberg kann man allerdings sagen, dass die Kriminalpolizei praktisch ausschließlich Männer verfolgt hat. Die Fürsorgebehörden haben mehr Frauen verfolgt, das hatte aber unterschiedliche Konsequenzen.
Welche?
Kiermayr: Die Kriminalpolizei hat dafür gesorgt, dass die Verhafteten nach Dachau und dann nach Mauthausen kamen und in Mauthausen gab es für einen „Asozialen“ praktisch keine Überlebenschance. In den Arbeitshäusern, in die die Fürsorgebehörden einwiesen, war das hingegen möglich – ohne jetzt zu verharmlosen.

Sie gehen von bis zu 67 Personen aus Vorarlberg aus, die aus diesem Grund zu Tode gekommen sind. Wie viele mehr könnten es sein?
Kiermayr: Es könnte sich auf die 100 zubewegen. Aber es gibt einen relativ großen Graubereich, weil nicht alles örtlich zuordenbar ist. Und die Biographien sind auch nach intensiver Forschung ziemlich fragmentarisch.
Die Biographien ähneln sich aber?
Kiermayr: Ja, sehr stark. Da ist die Verarmung durch die Wirtschaftskrise und eine Kriminalisierung schon vor dem Nationalsozialismus. Durch den Zugriff der Kriminalpolizei auf die Sozialfürsorge beginnt dann eine tödliche Verfolgung.
Warum hat sich die Nachkriegsgesellschaft mit Überlebenden dieser Gruppe so schwer getan?
Kiermayr: Die sogenannten Asozialen und besonders auch die „Berufsverbrecher“ leiden unter einer doppelten Stigmatisierung, weil etwa auch die politisch Verfolgten mit denen nichts zu tun haben wollten. Aber auch arrivierte Arbeiter haben sich von verarmten, zeitweise bettelnden, schwierigen Menschen, von Alkoholikern eher abgrenzen wollen. In dem Zusammenhang ist für mich auch auffällig, dass keine der an die hundert untersuchten Personen irgendeinen Bezug zur organisierten Arbeiterbewegung hatte.