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Eine persönliche Zeitreise durch das Nazi-Dornbirn

18.11.2023 • 23:00 Uhr / 9 Minuten Lesezeit
Der Einmarsch deutscher Truppen am 20. März 1938 in Dornbirn. Der Marktplatz wurde in Adolf-Hitler-Platz umbenannt.<span class="copyright">stadtarchiv dornbirn</span>
Der Einmarsch deutscher Truppen am 20. März 1938 in Dornbirn. Der Marktplatz wurde in Adolf-Hitler-Platz umbenannt.stadtarchiv dornbirn

Irmgard Kramer schreibt in Buch „Hilda. Meine Großmutter, der Nationalsozialismus und ich“ über Opfer und Täter in Dornbirn und unerwartete Erkenntnisse über ihre Großmutter.

Es ist April 2021, ein Lockdown hält wieder einmal alle in sprichwörtlicher Gefangenschaft. Auch die Autorin Irmgard Kramer, die in Dornbirn aufgewachsen ist und lange dort gelebt sowie gearbeitet hat, sitzt in ihrer Wohnung in Wien – ihrer Wahlheimat seit fünf Jahren. Da erhält sie einen Anruf vom Stadtmuseum Dornbirn: Ob sie ein Buch über die Opfer des Nationalsozialismus in ihrer Heimatstadt schreiben wolle, wird sie gefragt. Innerhalb von Minuten weiß die 54-jährige Frau, „dass mich das Projekt an meine Grenzen bringen wird und dass ich es trotzdem machen muss. Ich will wissen, wie es war im nationalsozialistischen Dornbirn“, schreibt sie im Vorwort des 127 Seiten starken Buches, das soeb­en erschienen ist. Weiters ist in der Einleitung zu lesen: „Ich habe Angst vor dem, was mir auf meiner Zeitreise begegnen wird. Wird mein lieb gewonnenes Bild von meiner Heimatstadt zerstört werden?“ Irmgard Kramer denkt sich aber, dass es in Dornbirn sicher nicht so schlimm war. „Ich meine, bitte, wir sind in Dornbirn, nicht in Wien oder Berlin.“

Autorin Irmgard Kramer ist in Dornbirn aufgewachsen und hat lange dort gelebt. <span class="copyright">Darko Todorovic</span>
Autorin Irmgard Kramer ist in Dornbirn aufgewachsen und hat lange dort gelebt. Darko Todorovic

Wie sich im Laufe der zweijährigen Arbeit aber herausstellen wird: Es war auch im kleinen Dornbirn schlimm. Und: „Während der Recherche bin ich bei jedem Kapitel meiner Großmutter Hilda Kramer begegnet. Das habe ich nicht erwartet, das hat mich überwältigt“, erzählt die Schöpferin der Kinderbuchreihe „Sunny Valentine“ im Gespräch mit der Neue am Sonntag. Ihre Oma Hilda war, so muss sie erkennen, nicht die Person, für die Irmgard Kramer sie gehalten hat. Die Frau, die von 1910 bis 1990 lebte, war Mitglied bei der NSDAP und Blockleiterin.

Frauen Aufmerksamkeit geben

Irmgard Kramer gibt dem Buch den Titel „Hilda. Meine Großmutter, der Nationalsozialismus und ich“. „Hilda steht stellvertretend für unsere Großeltern und Urgroßeltern, die während der Kriegsjahre gelebt haben“, erklärt die Schriftstellerin den Titel. Sie wählt bewusst ihre Großmutter und nicht deren Ehemann, denn: „Mir ist aufgefallen, dass man unseren Omas keine Aufmerksamkeit geschenkt hat, zumindest in meiner Familie nicht.“
Die ehemalige Lehrerin bekommt vom Stadtmuseum den Auftrag, öffentliche Orte Dornbirns mit Einzelschicksalen zu verknüpfen sowie mit Themen wie politischer Verfolgung, Propaganda, Widerstand, Judenverfolgung, Euthanasie oder Zwangssterilisierung. Um all das unter einen Hut zu bringen, entscheidet sich die ideenreiche Wahlwienerin für folgenden Weg: Die sechs großen Kapitel beginnt sie als Zeitreisende an die Orte Rathaus, Marktplatz, Stadtspital, Sägerbrücke und andere.

Das Cover des Buches, das ab jetzt erhältlich ist.
Das Cover des Buches, das ab jetzt erhältlich ist.

Für ihren ersten Zwischenstopp wählt sie den 10. August 1881. „Zielort: Bahnhof Dornbirn. Ich trage mein schönstes Sommerkleid, einen Blumenkranz im Haar, halte mein Taschentuch bereit und stelle mich auf die Zehenspitzen, um den Dampf als Erstes zu sehen. Wir erwarten hohen Besuch. Kaiser Franz Joseph kommt mit einem Sonderzug“, schreibt Irmgard Kramer. Anschließend schildert sie kurz das Ende der Kaiserzeit, den Ersten Weltkrieg und erläutert den Weg in die Katastrophe.
Ursprünglich beabsichtigt Irmgard Kramer, sich auf die Opfer zu konzentrieren, doch sie stellt fest: „Es geht nicht ohne die Täter. Ich will wissen, wer die Drahtzieher waren und was das für Menschen waren. Ich möchte die Zeit so gerne verstehen.“ Das Schwierige dabei ist: „Von allen leben noch Nachkommen, die ich zum Teil kenne. Das hat das Ganze sehr nah und berührend gemacht.“ Außerdem wird der Hobbysängerin bewusst: „An einigen der Orte, die ich beschreibe und die mir vertraut sind, waren die Täter und die Opfer Nachbarn. Das ist hart.“

Bogen zu NS-Arzt

Ob Irmgard Kramer die Geschichten der Opfer oder Täter erzählt, immer wieder schlägt sie einen Bogen zu ihrer Großmutter Hilda. In Kapitel sechs, das unter anderem vom Stadtspital handelt, erzählt sie zum Beispiel, dass dort ihre Oma 1935 ihr erstgeborenes Kind als Totgeburt zur Welt brachte. „Mein Onkel ist gestorben, weil mit dem Kaiserschnitt zu lange gewartet wurde.“ Das weiß die Autorin schon länger, als sie aber für ihr Buch recherchiert und auf den Namen des Arztes Bruno Rhomberg stößt, kombiniert sie: „Das muss der Arzt meiner Oma bei der Geburt gewesen sein.“ Eine Nachfrage bei ihrem 1938 geborenen Vater Hermann Kramer, der ihr während der gesamten Arbeit am Buch eine gute Quelle war, bestätigt ihre Vermutung.

Die Großmutter, der Großvater und der Vater der Autorin im Jahr 1944. <span class="copyright">Familie Kramer</span>
Die Großmutter, der Großvater und der Vater der Autorin im Jahr 1944. Familie Kramer

Irmgard Kramer beschreibt den Frauenarzt, Chirurgen und Geburtshelfer im Kapitel „Bruno Rhomberg – der Gott in Weiß“. Er trat 1938 der SA bei, führte in der NS-Zeit Zwangsabtreibungen und Zwangssterilisationen durch und stieg zum Sanitätsobersturmführer auf. „Er war ein Mann ohne Mitleid“, sagt die Autorin über ihn. Nach dem Krieg wurde Bruno Rhomberg wegen seiner Tätigkeiten während des NS-Regimes im ehemaligen Reichsarbeitsdienstlager in Rankweil-Brederis interniert und 1946 mit einem Berufsverbot belegt. Ab 1950 durfte er jedoch wieder ordinieren, 1960 wurde ihm der Titel „Medizinalrat“ verliehen.
Das schwierigste Kapitel sind für Irmgard Kramer die 35 Euthanasieopfer aus Dornbirn. Auch das Schicksal der jüdischen Familie Turteltaub berührt sie sehr. „Wenn man liest, dass Kinder vergast wurden, ist das schwer zu ertragen“, sagt sie. Die Geschichte von Johann Gutensohn rührt sie ebenfalls zu Tränen: Er war zur falschen Zeit am falschen Ort und wurde deshalb zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, wovon er einige Wochen sogar in einer Todeszelle verbringen musste. Im April 1945 wurde er von amerikanischen Soldaten befreit und bei seiner Rückkehr nach Dornbirn nicht mit offenen Armen empfangen, sondern buchstäblich bespuckt.

Von der Lehrerin zur Autorin

Irmgard Kramer gab 2010 ihren Beruf als Lehrerin auf, um Autorin zu werden. Das Wagnis hat sich gelohnt: Sie gewann 2019 den Österreichischen Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur und schrieb mehr als 20 Bücher, die zum Teil in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Historikerin ist die gebürtige Dornbirnerin jedoch nicht. Auf der ersten Seite ihres neuen, zeitgeschichtlichen Buches schreibt sie auch: „Dies ist keine wissenschaftliche Arbeit.“

Der damalige Adolf-Hitler-Platz mit NS-Beflaggung. <span class="copyright">Stadtarchiv Dornbirn</span>
Der damalige Adolf-Hitler-Platz mit NS-Beflaggung. Stadtarchiv Dornbirn

Das Stadtmuseum leistete viel Vorarbeit: Petra Zudrell und Barbara Motter übergaben Irmgard Kramer sehr viele Zeitzeugeninterviews, Recherchen und Fotos. Nichtsdestotrotz recherchierte sie zu vielen Themen selbst noch nach.
Der herausgebende Falter Verlag zieht über das zeitgeschichtliche Buch folgendes Fazit: „Irmgard Kramers persönliche Reise in die Nazizeit geht bei der Lektüre so nahe, wie es keiner Geschichtswissenschaft gelingt.“ Das persönliche Fazit der Autorin lautet: Das Leben ihrer Großeltern so offenzulegen, empfand sie als befreiend. Das Bild ihrer lieb gewonnenen Heimatstadt hat sich – wie sie zu Beginn befürchtete – tatsächlich sehr verändert. Die Arbeiten für das Buch haben ihr die Erkenntnis gebracht: „So etwas kann jederzeit und immer wieder passieren.“

„Hilda. Meine Großmutter, der Nationalsozialismus und ich“ ist im Falter Verlag erschienen und im Stadtmuseum Dornbirn sowie im Buchhandel um 18 Euro erhältlich.

Zwei neue Bücher

Die Großeltern von Irmgard Kramer besaßen eine Tischlerei in der Eisengasse, die es heute noch gibt. Die Recherchen zu ihrem Buch „Hilda. Meine Großmutter, der Nationalsozialismus und ich“ führten die Autorin immer wieder zu dieser Tischlerei. Dadurch wurde der Schauplatz von Irmgard Kramers neuestem Kinderbuch, das sie fast zeitgleich schrieb, sehr beeinflusst. „Ida Butterblum und die Tür nach Anderswo“ ist vor Kurzem erschienen, im Buchhandel erhältlich und kostet 16 Euro.