Revanche und Blutgeld

Vielleicht hat manch einer auch drauf gewartet, Martin Selmayr eins auszuwischen.
Im September 2020 hatte die ÖVP eine schlechte Idee. Ihr Finanzminister, Gernot Blümel war gerade damit gescheitert, den damals wegen der Pandemie verhängten Fixkostenzuschuss für Unternehmen in Brüssel verlängern zu lassen. Die Wirtschaft war nicht begeistert. Daher musste etwas getan werden – oder, um in der Denkweise der Kurz-ÖVP zu bleiben, es musste so aussehen als würde etwas getan werden. Also fasste man den Entschluss, den Vertreter der Europäischen Kommission in Österreich, Martin Selmayr, öffentlich vorzuführen.
Nun braucht man Selmayr nicht gut zu kennen, um zu wissen, dass er kein gutes Opfer abgibt. Deshalb war die Idee auch so schlecht.
Aber offenbar gab es niemanden, der es der ÖVP gesagt hätte. Das ist in Österreich leider ein häufiges Problem. Der Finanzminister hatte nämlich auch niemanden, der einen gescheiten Antrag geschickt hätte. Das Gesuch war nur deshalb nicht durchgegangen. Ein Diplomat hätte das den anwesenden beiden Ministern Gernot Blümel und Elisabeth Köstinger vielleicht im Vertrauen etwas schonender beigebracht. Doch Martin Selmayer sah wohl keinen Grund dafür, die sprichwörtliche Kröte zu fressen, nachdem man ihn den versammelten Medienvertretern zum Fraß hatten vorwerfen wollten. So ein Antrag sei, „wenn sich drei intelligente Leute zusammensetzen innerhalb einer halben Stunde“ geschrieben, meinte der Kommissionsvertreter. Anstatt die europäische Kommission als Sünder, wurde die österreichische Regierung als unfähig offenbart.

Seitdem mag die ÖVP – oder zumindest Teile von ihr – Martin Selmayr nicht mehr so gerne. Vielleicht hat manch einer auch drauf gewartet, ihm eins auszuwischen. Und weil eine Partei ihre Herkunft nur dann vergisst, wenn es ihr bequem ist, verstand man in der ÖVP wohl sofort, woher Selmayrs Begriff „Blutgeld“ stammte, über den nun heftig diskutiert wird. Bei einer Diskussion hatte er auf eine Publikumsfrage, ob Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wegen des Krieges in der Ukraine nicht Blut an den Händen habe, auf die österreichischen Gasgeschäfte mit Russland verwiesen und auf das „Blutgeld“, das den Angriffskrieg mitfinanziert.
Da dürfte bei Europaministerin Karoline Edtstadler das innere Wandlungsläuten angegangen sein. Denn in Matthäus 27,6 erklären die Hohepriester, als Judas ihnen ihre 30 Silberlinge vor die Füße wirft: „Man darf das Geld nicht in den Tempelschatz tun; denn es klebt Blut daran.“ Die Einheitsübersetzung ist hier wie üblich weniger bildhaft als die Lutherbibel – dort steht: „Es ist nicht recht, dass wir sie in den Tempelschatz legen; denn es ist Blutgeld.“
Dass Selmayr die Kommissionspräsidentin verteidigt hatte, ging auf dem Weg, den die Episode nach Brüssel nahm, irgendwie unter. Edtstadler ritt gegen ihn aus, die Kommission ruderte zurück, der Skandal war perfekt und insgesamt sehr biblisch.
Bevor Judas bei Matthäus das Blutgeld auf den Tempelboden wirft, erinnert er übrigens noch die Hohepriester an ihre Mitschuld am Tod Jesu. Ihre Reaktion steht auch stellvertretend für Österreichs Verantwortung für seine Gasgeschäfte und deren Beitrag zu Russlands Angriffskrieg. In Bachs Matthäuspassion schreit der Chor fast hysterisch die Priesterworte heraus: „Was gehet uns das an?“