Politik

Furcht vor Eskalation der Gewalt vor Türkei-Wahl

08.05.2023 • 17:48 Uhr / 6 Minuten Lesezeit
Furcht vor Eskalation der Gewalt vor Türkei-Wahl

Das türkische Wahlkampf-Finale wird zunehmend rauer. Die Rhetorik wird härter und die Stimmung unter den Anhängern der beiden Lager angespannter. Es kam bereits zu mehreren Zwischenfällen, Beobachter befürchten eine Eskalation.

Im türkischen Wahlkampf ist erstes Blut geflossen: Mit Pflastersteinen haben Randalierer eine Kundgebung der Opposition im osttürkischen Erzurum angegriffen. Polizisten in Kampfmontur bummelten untätig zwischen den Steinwerfern herum, während verletzte Kundgebungsteilnehmer – darunter Kinder – auf den Notarzt warteten und der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu im Steinhagel von der Bühne flüchten musste. Die Gewalt dürfte bis zum Wahltag am Sonntag weiter eskalieren.

Urteil verhinderte Kandidatur von Erdoğan-Herausforderer

Imamoğlu, der bei einem Machtwechsel in Ankara türkischer Vizepräsident werden soll, ist ein begabter Redner, einer der populärsten Oppositionspolitiker des Landes und ein Publikumsmagnet im Wahlkampf. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte eine Präsidentschaftskandidatur des Bürgermeisters mit einem Gerichtsurteil verhindern lassen. Nun macht Imamoğlu Wahlkampf für den Oppositions-Präsidentschaftskandidaten Kemal Kiliçdaroğlu.

In Erzurum, das von Erdoğans AKP regiert wird, hatte die Stadtverwaltung am Sonntag zunächst versucht, Imamoğlus Auftritt zu verhindern. Sie ließ den Kundgebungsplatz mit städtischen Bussen sperren, doch die Veranstaltung begann trotzdem. Als Imamoğlu zu sprechen begann, flogen die ersten Steine. Rund ein Dutzend Menschen wurden verletzt, Scheiben an Imamoğlus Wahlkampfbus wurden zertrümmert. Imamoğlu brach die Veranstaltung ab.

Polizei untätig

Im Steinhagel wandte sich Imamoğlu per Lautsprecher an die Polizisten auf dem Platz, die jedoch erst später eingriffen. Festgenommen wurde offenbar niemand. Nachdem Imamoğlu abgereist war, hissten Demonstranten auf dem Versammlungsplatz in Erzurum die Fahnen der AKP. Ein regierungskritischer Polizeiverband warf den Behörden in Erzurum vor, sie hätten gewusst, dass sich die Steinewerfer vor Imamoğlus Auftritt versammelten, aber nichts gegen sie unternommen.

Videos in den sozialen Medien machten den Gewaltausbruch im ganzen Land bekannt. Imamoğlu wurde am Sonntagabend nach seiner Rückkehr in Istanbul von Tausenden Anhängern empfangen. Die Behörden waren deshalb gezwungen, Stellung zu nehmen. Der AKP-Bürgermeister von Erzurum, Mehmet Sekmen, warf der Opposition vor, die Gewalt inszeniert zu haben: Die Steinewerfer seien Anhänger von Imamoğlus Partei CHP gewesen. Innenminister Süleyman Soylu sagte, Imamoğlu sei ein “Provokateur”. Der Platz in Erzurum sei nicht als Veranstaltungsort genehmigt gewesen. Der Istanbuler Bürgermeister habe ein “Theater” veranstaltet.

Eskaliert die Gewalt bis Sonntag

Präsidentschaftskandidat Kiliçdaroğlu sagte, die Regierung wolle die Opposition einschüchtern. Er rief seine Anhänger zur Ruhe auf. Das Regierungslager sei wegen Imamoğlus Erfolgen im Wahlkampf nervös, und diese Nervosität sei in Erzurum in Gewalt umgeschlagen, schrieb der Journalist Kadri Gürsel auf Twitter. Dies könne sich am Wahltag für die Regierung rächen. Das befürchten offenbar auch einige von Erdoğans Beratern. Anders als Innenminister Soylu erklärte Erdoğans Sprecher Ibrahim Kalin, die Steinwürfe seien inakzeptabel.

Manche Beobachter erwarten dennoch, dass die Gewalt bis zum Sonntag eskalieren wird. Erdoğans nationalistischer Bündnispartner Devlet Bahçeli hatte vor einigen Tagen gesagt, Kiliçdaroğlu und andere Oppositionspolitiker würden entweder langjährige Haftstrafen wegen Landesverrats erhalten – oder “eine Kugel”.

Erdoğan tobt: Regierung dürfe keinem “Saufbold” überlassen werden

Auch Erdoğans verbale Angriffe auf die Opposition werden kurz vor dem Wahltag schärfer. Bei einer Großkundgebung der AKP am Sonntag in Istanbul nannte er Herausforderer Kiliçdaroğlu einen “Saufbold”, dem man nicht die Regierung überlassen dürfe. Zudem wiederholte Erdoğan die Behauptung, bei den Gezi-Protesten von 2013 hätten Demonstranten in einer Istanbuler Moschee Bier getrunken. Der damalige Imam der Moschee hatte dies mehrmals dementiert. Erdoğan warf Kiliçdaroğlu auch vor, für die Rechte von Homosexuellen, Bisexuellen und Transsexuellen einzutreten. Für die AKP dagegen sei die Institution der Familie “heilig”.

Gewaltaufrufe im Netz

In den Umfragen liegt Kiliçdaroğlu vor Erdoğan und hat nach Einschätzung einiger Demoskopen die Chance, das Rennen um die Präsidentschaft am Sonntag in der ersten Runde für sich zu entscheiden; erreicht kein Kandidat mehr als 50 Prozent, gibt es am 28. Mai eine Stichwahl. Auch bei der Parlamentswahl am Sonntag deutet sich nach den Umfragen eine Niederlage für Erdoğans Regierung an.

Imamoğlu plante am Montag einen Auftritt im zentralanatolischen Konya. Gegner des Politikers riefen im Internet dazu auf, ihn auch dort mit Steinen zu empfangen.

Verwirrung über Besucherzahlen bei Kundgebung

TURKEY-POLITICS-ELECTIONS
Eine Luftaufnahme von der Pro-Erdoğan-Kundgebung in Istanbul.APA

Verwirrung gibt es über die Teilnehmerzahl von Kundgebungen für die Kandidaten. So behauptet Erdoğan, er habe in Istanbul 1,7 Millionen Zuschauer gehabt, doch laut unabhängigen Schätzungen waren es ein paar Hunderttausend – die Opposition hatte am Tag zuvor ähnlich viele Anhänger in Istanbul zusammengetrommelt, eine offizielle Teilnehmerzahl wurde nicht genannt. Welche Zahlen nun auch stimmen – über die Wahlchancen der beiden Lager dürften sie wenig aussagen. Vor fünf Jahren zog der damalige Oppositionskandidat stets riesige Menschenmengen an und verlor dann doch klar gegen Erdoğan.