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Das hohe Niveau in kleinen Dimensionen

09.08.2020 • 16:06 Uhr / 10 Minuten Lesezeit
Helgi Kolvidsson vor Liechtensteins Trainingszentrum in Ruggell. <span class="copyright">Dietmar Stiplovsek</span>
Helgi Kolvidsson vor Liechtensteins Trainingszentrum in Ruggell. Dietmar Stiplovsek

Seit 2019 ist Helgi Kolvidsson Nationaltrainer in Liechtenstein. Der ehemalige Austria-Lustenau-Trainer und Co-Trainer der isländischen Nationalteams über Entwicklungsarbeit.

Inwieweit hat Corona Ihren Alltag als Nationaltrainer verändert?
Helgi Kolvidsson: Es war besonders zu Beginn eine große Herausforderung. Wir hatten natürlich schon das ganze Frühjahr geplant, und keiner wusste, wie lange der Lockdown andauern würde. Ein paar Wochen oder vielleicht sogar monatelang? Diese Ungewissheit war aus meiner Sicht das Schwierigste. Ich habe die Zeit genutzt, um eine Datenbank mit unseren Trainingseinheiten anzulegen, auf die alle Vereine in Liechtenstein und natürlich alle Trainer im Verband Zugriff haben. Die Trainer können mit Stichworten wie Technik oder Spielform nach genau beschriebenen, grafisch dargestellten Übungen suchen und sie so in ihren Trainingsalltag einbauen. Das erhöht das Trainingsniveau im Land und sorgt gleichzeitig für Transparenz. So wissen die Vereine, wie wir arbeiten. Die Datenbank umfasst etwa 600 Übungen.

Der Aufwand, den der liechtensteinische Verband betreibt, ist sehr groß – das beweist ja auch der Lokalaugenschein hier beim nationalen Trainingszentrum in Ruggell.
Kolvidsson: Natürlich, wir tun, was in unser Macht steht, um das Allerbeste aus unseren Möglichkeiten herauszuholen. Wir haben hier in Kooperation mit der Gemeinde Ruggell und dem FC Ruggell fünf Fußballplätze, einer davon ist ein Kunstrasenplatz. Hier absolvieren wir unsere Lehrgänge vor den Nationalspielen. Das Hotel, in dem wir übernachten, grenzt unmittelbar an die Plätze an. Ebenfalls angrenzend ist gerade ein Multifunktionsgebäude in Bau, in dem Kabinen, Büros und Schulungsräume untergebracht sind. Wir arbeiten beim Liechtensteiner Fußballverband auf sehr hohem Niveau, in kleinen Dimensionen. Aber die Bedingungen in unserem Trainingszentrum sind so gut, dass hier Borussia Dortmund ein Nachwuchscamp veranstaltet, das sagt alles. Und auch unsere Trainingsqualität ist hoch, wir wurden im Frühjahr sogar von der UEFA gelobt.

Das hohe Niveau in kleinen Dimensionen
Liechtensteins Trainingszentrum umfasst fünf Plätze, davon ein Kunstrasenplatz. Stiplovsek

Das heißt?
Kolvidsson: Die UEFA veranstaltet regelmäßig Meetings, bei denen sich die Nationalmannschaften austauschen. Beim letzten Mal haben wir unser Athletiktraining präsentiert, und da haben einige große Augen gemacht. Wir bekommen heute noch Anrufe von den Leitern der Athletiktrainer-Fortbildung der UEFA und damit von denen, die mit den UEFA-Lizenz-Ausbildungen Standards im Weltfußball setzen. Das macht uns stolz, dass sich so ausgewiesene Experten für unsere Methoden interessieren.

Als Liechtensteiner Nationaltrainer müssen Sie ein Training konzipieren, das sowohl den wenigen Profis im Kader gerecht wird als auch den vielen Amateuren?
Kolvidsson: Das ist exakt einer der Punkte, der von der UEFA gelobt wurde. Bei unseren Profis, die in der ersten oder zweiten Liga spielen, kennen wir das Trainingsniveau ihrer Vereine, da wissen wir, dass gut und intensiv gearbeitet wird. Aber bei unseren Amateuren wussten wir fast nichts über die Intensität, was eine effektive und sinnvolle Trainingssteuerung bei der Nationalmannschaft ganz schwierig gemacht hat. Darum tragen jetzt alle Nationalspieler einen GPS-Sender bei ihren Vereinstrainings, dieser Sender zeichnet alle Bewegungen auf. Nach dem Training schicken uns die Spieler die Daten per E-Mail. Dadurch wissen wir, wie viele Sprints die Spieler absolvierten, wie viele Drehungen und Richtungsänderungen sie machten – wir haben einen detaillierten Belastungsüberblick. Wir vergleichen die Daten aller Spieler und erstellen so ein Training, das sich an den Besten orientiert, bei dem aber diejenigen, die keine so hohe Belastung gewöhnt sind, ein, zwei Übungen auslassen.

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Angrenzend zu den Trainingsplätzen ist in Ruggell auch ein Multifunktionsgebäude in Bau, in dem Büros, Schulungsräume und Kabinen wie diese untergebracht sind. Dietmar Stipvlosek

Machen diese Entwicklungsmöglichkeiten den Reiz für Sie aus, als Liechtensteiner Nationaltrainer zu arbeiten?
Kolvidsson: Ja, der Reiz ist sehr groß, nicht nur ergebnisorientiert, sondern perspektivisch zu arbeiten, Strukturen aufzubauen, Entwicklungen voranzutreiben. Erfolg ist im Fußball bis zu einem gewissen Grad planbar, wenn man sich die Zeit dafür gibt. In Island dauerte es fünf, sechs Jahre, bis wir überhaupt an eine Qualifikation für ein Großturnier denken konnten. Das EM-Viertelfinale 2016 und die WM-Teilnahme 2018 waren der Lohn jahrelanger, harter und konsequenter Arbeit mit Weitblick.

Wie schätzen Sie im Vergleich zu Island das Potenzial von Liechtenstein ein?
Kolvidsson: Was die Zahlen betrifft, ist in Liechtenstein alles zehn Mal kleiner. In Island leben knapp 400.000 Menschen, Liechtenstein hat rund 40.000 Einwohner. In Island gibt es 70 Fußballvereine, hier sind es 7. Trotzdem ist Island ein gutes Vorbild für uns. Dort wurde in die Jugend- und Trainerausbildung investiert, es wurden Trainingshallen gebaut, weil über weite Strecken des Jahres nicht im Freien gespielt werden kann, es wurden sehr gute Kooperationen mit Schulen gemacht. Das waren gute Maßnahmen, die aufzeigen, wie wichtig eine langfristige Ausrichtung ist; und bei uns in Liechtenstein wird perspektivisch gedacht. Unlängst haben wir vom Verband zusammen mit dem Liechtenstein Olympic Committee eine Reise nach Skandinavien gemacht und uns Tipps geholt.

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Kolvidsson bei der WM 2018 als Co-Trainer der isländischen Nationalmannschaft. Privat

Wie schwierig ist es, mit Liechtenstein in Bewerbsspielen gegen Nationen wie Italien oder Bosnien-Herzegowina das Gesicht zu wahren?
Kolvidsson: Jeder Spieler von uns muss sein absolutes Limit erreichen, und auch gruppentaktisch muss alles funktionieren, um solchen großen Fußballnationen alles abverlangen zu können. Wir analysieren die Gegner, bereiten unsere Spieler penibel vor, analysieren die Standards – im Wissen, dass der gegnerische Trainer zu seiner Mannschaft sagt: Geht’s raus und spielt’s Fußball. Aber wir feiern Teilerfolge. Zum Beispiel beim EM-Qualifikations-Heimspiel gegen Italien im Herbst. Da sind wir zwei Mal alleine aufs Tor gerannt. Nach ein paar Sekunden beim Stand von 0:0 und später noch mal beim Stand von 0:1. Wenn eine der Chancen reingeht, haben die Italiener plötzlich was zu verlieren, denn natürlich wird von ihnen erwartet, dass sie sehr hoch gegen uns gewinnen. Wir waren bis zur Schlussviertelstunde nur 0:2 hinten, dann sind wir leider körperlich eingebrochen und fingen uns noch drei Tore.

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Italiens Teamtrainer Roberto Mancini zollte Liechtenstein und Kolvidsson Respekt. Reuters

Zollen die Gegner Ihnen und Ihrer Mannschaft eigentlich Respekt?
Kolvidsson: Natürlich! Italiens Nationaltrainer Roberto Mancini zum Beispiel wurde nach dem Spiel gegen uns bei der Pressekonferenz gefragt, wieso seine Mannschaft nur 5:0 gewonnen hat. Und er sagte: Weil Liechtenstein sehr gut organisiert war und es uns schwer gemacht hat. Mancini hat danach auch noch das Gespräch mit mir gesucht. Dieses Messen auf höchstem Niveau ist eine großartige Herausforderung für uns als Team und auch für mich als Trainer, weil es darauf ankommt, dass wir als Mannschaft funktionieren, und dafür braucht es die richtigen taktischen Vorgaben.

Beim Auswärtsspiel in Bosnien-Herzegowina hielt Ihre Mannschaft sogar bis zur 80. Minute ein 0:1, verlor aber ebenfalls noch 0:5.
Kolvidsson: Da war wirklich was drin für uns. Die Heimfans haben ihre Mannschaft ausgepfiffen, weil sie sich einen Kantersieg erwartet haben. Bosnien wurde immer ungeduldiger, wir hatten mehrfach gute Konterchancen. Nach einem Standardgegentor zum 0:2 sind wir dann leider eingebrochen. Wenn wir es in Zukunft schaffen, konditionell nicht nur 75 oder 80 Minuten gegen Nationen wie Italien oder Bosnien-Herzegowina mitzuhalten, sondern 90 Minuten, dann werden wir auch gegen solch große Fußballnationen unsere Momente haben.

Um diesen Entwicklungsschritt zu machen, braucht es die richtigen strategischen Entscheidungen.
Kolvidsson: So ist es. Über die Infrastruktur und Konzepte haben wir ja schon gesprochen, wichtig ist aber auch, dass die richtigen Personalentscheidungen getroffen werden. Denn am Ende sind es immer die Menschen, die Konzepte und Strategien mit Leben ausfüllen und umsetzen. In Bezug auf die Mannschaft heißt das: Du brauchst für das Trainer- und Betreuerteam Spezialisten, die Zeiten sind lange vorbei, in denen alles vom Cheftrainer abhing. Der Co-Trainer, der Athletikcoach, der Videoanalyst, der Physiotherapeut, der Arzt – es ist sehr wichtig, diese Positionen mit Fachleuten zu besetzen, um ganzheitlich zu arbeiten. Damit eine positive Dynamik entsteht. Ich sehe in Liechtenstein großes Potenzial für eine positive Entwicklung.

Zumal ja die Achtungserfolge nicht ausbleiben.
Kolvidsson: Wir haben 2019 in der EM-Qualifikation 1:1 in Griechenland gespielt und vier Wochen später auch zu Hause gegen Armenien ein 1:1 geholt. Jetzt im Herbst steht die Nations League an, da treffen wir auf San Marino und Gibraltar; für diese Spiele nehmen wir uns viel vor.

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Kolvidsson bejubelt das Ausgleichtor beim EM-Quali-Heimspiel gegen Armenien. Reuters

Das heißt also, dass Sie Ihren Vertrag, der Ende des Jahres ausläuft, verlängern möchten?
Kolvidsson: Wir haben bereits gute Gespräche geführt, durch Corona ist diese Entscheidung aber erst mal in den Hintergrund gerückt.
Anmerkung: Helgi Kolvidsson wird im Rahmen der „Fußballwelten“ Kolumnist bei der NEUE.