Sport

„Ich bekomme noch meine Chancen“

07.10.2023 • 23:00 Uhr / 10 Minuten Lesezeit
Nina Ortlieb beim NEUE-Gespräch<br>im Val Blu in Bludenz. <span class="copyright">Stiplovsek Dietmar</span> 
Nina Ortlieb beim NEUE-Gespräch
im Val Blu in Bludenz. Stiplovsek Dietmar 


Im Zuge einer ÖSV-Trainingsgruppe der Speed Damen im Val Blu Resort in Bludenz, entstand eine NEUE-Interviewserie. Den Auftakt macht Nina Ortlieb (27).

Wie lange hat es gedauert, bis Sie realisiert haben, dass Sie im Februar Vizeweltmeisterin in der Abfahrt geworden sind?

Nina Ortlieb: Das ist mir relativ schnell gelungen. Ich hatte bei dem Rennen ja mit der Nummer fünf eine niedrige Startnummer, und dadurch hatte ich im Ziel im Verlauf des Rennens sehr viel Zeit, meine starken Emotionen zu verarbeiten. Es ist mir während des Wartens im Ziel immer klarer geworden, dass ich drauf und dran bin, Vizeweltmeisterin zu werden.

Das heißt, als Sie das Zielgelände verlassen haben, war Ihnen schon bewusst, was Sie erreicht hatten?

Ortlieb: Ja, wobei natürlich der emotionale Höhepunkt sicherlich die Siegerehrung war, als ich die Medaille überreicht bekommen habe.

Ihnen fehlten vier Hundertstel auf Gold, vier Hundertstel auf den Weltmeistertitel. Gehen Sie mit diesen vier Hundertsteln immer gleich um, oder gibt es Momente, da Sie sich über diesen Wimpernschlag sehr ärgern?

Ortlieb: Kurz vor der Einfahrt ins Ziel war ich eigentlich sehr zufrieden mit meiner Fahrt. Dann habe ich abgeschwungen und gesehen, dass ich vier Hundertstel zurückliege. In diesem Moment habe ich mich sehr geärgert, weil ich wusste, dass diese vier Hundertstel drin gewesen wären, und ich natürlich sofort daran dachte, dass mir diese paar Hundertstel noch sehr weh tun könnten. Ich konnte ja nicht wissen, dass keine Läuferin mehr schneller sein würde.

Seit diesem einen Moment im Ziel hat es also nie mehr einen Augenblick gegeben, in dem Sie sich sagten: Verdammt, vier Hunderts­tel schneller, und ich wäre Weltmeis­terin? Auch nicht, wenn Sie an den Goldmedaillen Ihres Vaters vorbeigegangen sind?

Ortlieb: Nein, eigentlich nicht, denn ich war ja auch nur acht Hundertstel schneller als die drittplatzierte Corinne Suter. Außerdem wäre Sofia Goggia auch noch auf Augenhöhe mit uns gewesen, bis sie einen Fehler gemacht hat – sie ist ganz ohne Medaille heimgegangen. Man darf also nicht nur die vier Hundertstel sehen, die auf den ersten Platz gefehlt haben, sondern muss auch die knappen Abstände nach hinten sehen. Ich weiß schon, was Sie meinen, und Sie haben völlig recht: Ja, es wäre möglich gewesen. Und natürlich ist das Ziel die Goldmedaille, aber ich bekomme noch meine Chancen, dessen bin ich mir sicher. Es wäre vielleicht auch zu kitschig gewesen, wenn ich nach meinem Sturz in Cortina und der dabei erlittenen Gehirnerschütterung tatsächlich Weltmeisterin geworden wäre.

Die wenigsten glaubten nach dem Sturz, dass es sich für Sie ausgehen würde mit einem Start bei der WM.

Ortlieb: Auch darum ist es eine gewonnene Silbermedaille und keine verlorene Goldmedaille. Das habe ich schon im Ziel gesagt, und das sage ich auch heute noch. Es ist sich nämlich wirklich auf den Tag genau ausgegangen mit meinem Comeback. Als ich nach Frankreich zur WM gefahren bin, hatte ich nur ein paar Tage Freifahren in den Beinen – und das auch noch bei schlechten Bedingungen. Ich bin wirklich vom Tiefschnee auf die WM-Piste gewechselt. Beim Training in Meribel habe ich mich dann von Tag zu Tag wohler gefühlt, am Renntag wusste ich, dass was möglich ist. Es ging mir vor allem auch darum, sagen zu können, dass ich alles probiert habe. Wenn es nicht gereicht hätte, dann hätte ich mir nichts vorwerfen können.

Kostete Sie der Rennstart Überwindung?

Ortlieb: Es war eine Überwindung, weil ich körperlich noch immer angeschlagen war, ich hatte eine Schwellung im Knie und an der Hüfte. Man kann die Rennbelastung nicht simulieren, sondern weiß erst beim Runterfahren auf der Rennstrecke, was Sache ist. Und der Kurs hatte ja doch einige Sprünge. Es gab da diesen einen Moment, als ich mir bei der WM sagte: Schau’n wir mal, ob sich das wirklich für mich ausgeht. Aber in Wahrheit gibt es keine Zeit zum Schauen. Eine Fahrt abbrechen, wenn es doch nicht reicht – der Schuss kann schwer nach hinten losgehen. Mir haben dann aber die Trainer und Ärzte viel Vertrauen gegeben, das war wichtig. Geholfen hat mir auch, dass die Bedingungen gut waren und dass ich das Training als Training nutzen konnte und keine Quali fahren musste. Zu den Hundertsteln: Die sind vielleicht irgendwann mal auf meiner Seite.

Das erinnert mich an ein Gespräch mit Alessandro „Izzi“ Hämmerle, nachdem er bei der WM 2021 im Fotofinish die Goldmedaille verloren hat. Ich sagte zu ihm: Bei Olympia kommen diese paar Zentimeter zurück.

Ortlieb: So war es dann auch. Ich bin der Überzeugung, dass harte Arbeit belohnt wird. Wenn man Zweite wird, dann bedeutet das, dass man noch härter arbeiten muss, noch weniger Fehler machen darf, noch konstanter fahren muss, um die Goldmedaille zu gewinnen. Das ist mein Ziel.

Teilt Ihre WM-Silbermedaille Ihre Karriere in ein davor und ein danach?

Ortlieb: Die mediale Aufmerksamkeit ist größer geworden, das ja. Aber ich habe den Zugang, ob man eine Sekunde schneller oder langsamer eine Skirennpiste hinunterfährt, macht einen nicht zu einem besseren oder schlechten Menschen. Und ich hoffe, so nimmt mich auch mein Umfeld wahr. Die Medaille war eine Bestätigung. Nach meiner letzten schweren Verletzung gab es einige kritische Stimmen: Macht es überhaupt noch Sinn weiterzumachen, und für wen oder was machst du das? Aber Skifahren ist meine Leidenschaft, und bei einer Leidenschaft gehören auch Leiden dazu. Die Medaille war sicher eine Genugtuung für mich.

Weil sonst irgendwann einige gesagt hätten: Wir haben es dir immer gesagt, dass es keinen Sinn mehr macht.

Ortlieb: (lächelt) Ja genau, ich bin diesen Weg ja nur für mich gegangen, und trotzdem war es schön, meinem Umfeld zu zeigen, dass mein Weg stimmt.

Sie haben drei Wochen nach der WM den Weltcup-Super-G in Kvitfjell gewonnen. War Ihnen das als Bestätigung Ihrer WM-Medaille wichtig?

Ortlieb: Nein, weil das eine nichts mit dem anderen zu tun hat. Das WM-Rennen war abgeschlossen, und ich habe natürlich bei jedem Rennen das Ziel, so weit wie möglich vorne zu sein. In Kvitfjell war es sicher so, dass ich durch die äußeren Bedingungen einen Vorteil hatte, weil die Verhältnisse besser wurden, aber diesen Vorteil muss man erst mal nutzen. Andere hatten diesen Vorteil auch und haben nicht gewonnen. Es gilt immer, bei jedem Rennen das Beste aus den Möglichkeiten zu machen und die eigenen Ansprüche zu erfüllen, aber nicht, um vergangene Erfolge zu bestätigen, sondern um neue Erfolge zu feiern.

Die Erwartungen von außen sind sicherlich gestiegen. Wie gehen Sie mit diesem Druck um?

Ortlieb: Ich bin mit einem gewissen Druck groß geworden und habe verstanden: Druck ist nicht greifbar. Der Druck ist nur so groß, wie man ihn selbst verspürt oder vielleicht sogar spüren möchte. Was ein anderer von mir erwartet, muss mir egal sein, und das ist es auch. Ich habe selbst an mich genügend Ansprüche, denen möchte ich gerecht werden. Die Leute, die mir nahestehen, wissen, dass ich keinen Druck von außen als Antrieb brauche.

Verletzungsfrei zu bleiben ist für Sie nach all den schweren Verletzungen die oberste Prämisse. Nun kann man sich das nicht vornehmen, verletzungsfrei zu bleiben – aber kann man etwas dafür tun?

Ortlieb: Mir ist bewusst, dass einen jede Verletzung nach hinten wirft, durch diese Erfahrung habe ich bei der Trainingssteuerung dazu gelernt. Ich bin jemand, der sich sehr schwer damit tut, zu pausieren, doch mit dieser Einstellung habe ich vielleicht die ein oder andere Verletzung heraufbeschworen. Weil manchmal ein Tag Pause nützlicher ist als noch ein Trainingstag, mit dem man nichts Positives mehr bewirken kann. Sondern nur noch mehr über die Belastungsgrenze kommt. Man muss also vernünftig sein, aber das fällt einem viel leichter, wenn man sich schon eine gewisse Position in der Mannschaft erarbeitet hat, sich nicht mehr in jedem Training völlig neu beweisen muss. Bei der Trainingsplanung ist es auch einfacher geworden, weil wir jetzt wieder eine kleinere Gruppe sind und die Trainer individueller auf uns eingehen können. Zudem kennen uns die Trainer schon länger, vor allem Christoph Alster ist schon jahrelang dabei, er hat schon viel mitgemacht mit uns, das hilft uns allen.

Bleibt zum Schluss noch die Frage: Was ist Ihr Saisonziel?

Ortlieb: Ich will bei den Rennen konstant weit vorne mitfahren. Im Endeffekt möchte ich die Abfahrtskugel gewinnen, das ist ein sehr hohes Ziel, dafür muss ein Winter lang alles passen. Aber dieses Ziel treibt mich an, denn ich weiß, dass es möglich ist.

Nächste Woche: Ariane Rädler und Christine Scheyer im Doppel-interview.