Vorarlberg

Ein Verbrechen „unter dem Mantel der Liebe“

14.01.2023 • 09:00 Uhr / 9 Minuten Lesezeit
Schauplatz des historischen Verbrechens ist die Wallfahrtsgemeinde Bildstein. <span class="copyright">Hartinger</span>
Schauplatz des historischen Verbrechens ist die Wallfahrtsgemeinde Bildstein. Hartinger

Ein Verbrechen führt 1919 zu Vertuschungsversuchen, Drohungen und politischen Debatten.

Als ein Bildsteiner Vater im Jänner 1919 Geld bei seiner Tochter entdeckt, von dem er nicht weiß, woher sie es hat, stellt er das Kind zur Rede. Es stammt von einer angesehenen Person im Ort und führt zur Aufdeckung eines schrecklichen Verbrechens.

Lebensweg eines Täters

Im Jahr 1909 werden in Vorarl­berg und Tirol 22 junge Pries­ter geweiht. Unter ihnen ist der Vorarlberger Leo Düngler, der seine Weihe am 6. Juli in Klösterle erhält und dort seine Primiz feiert, die erste heilige Messe. Bald darauf wird er als Seelsorger am berüchtigten Jugendheim am Jagdberg tätig.

Ob es dort bereits zu Übergriffen durch ihn auf Kinder kommt, ist nicht bekannt. Missbrauch steht am Jagdberg aber an der Tagesordnung. Der junge Pries­ter bleibt nicht lange. Er wird bereits im Jänner 1910 wieder aus dem Jugendheim abgezogen und als Provisor, also als Vertreter des Pfarrers nach Sulz versetzt. Das von der Geistlichkeit herausgegebene „Vorarlberger Volksblatt“, damals die dominante Tageszeitung im Land, richtete Düngler für seine Tätigkeit am Jagdberg „für alle Liebe und aufopferungsvolle Hingabe an die armen Kinder“ ein öffentliches „Vergelt’s Gott“ aus.

Vier Posten in zwei Jahren. Nach seiner Tätigkeit in Sulz, die nur bis zum Juni 1910 dauert, wird Düngler Frühmesser in Bürs, wo er auch Religionsunterricht erteilt. 1912 hält er einen Vortrag über das Volksschulgesetz, das die Kirche lange bekämpft hatte, weil es ihren Einfluss auf die Schulen zurückdrängt.

Im selben Jahr wird Kaplan Düngler Provisor in Bildstein, wo er wieder als Religionslehrer eingesetzt wird. Ob seine rasch wechselnden Dienstposten – es sind vier in zwei Jahren – mit der häufigen Versetzung von Jungpriestern oder mit einer disziplinarischen Auffälligkeit zu tun hat, lässt sich aus den verfügbaren Quellen nicht rekonstruieren. Die Kirche versetzt damals Missbrauchstäter regelmäßig, auch über Staatsgrenzen hinweg. Das Priestertum ist zu dieser Zeit mit hohem Ansehen verbunden und die Kirche will alles tun, um es zu wahren. Der Staat macht es ihr leicht, denn das damalige Konkordat, der Vertrag Österreichs mit dem Heiligen Stuhl, verpflichtet die Behörden, bei Einleitung von Ermittlungen gegen Priester den Ortsbischof zu verständigen.

Missbrauch in Bildstein

Spätes­tens in Bildstein, wo Düngler ab 1912 als Kaplan dem örtlichen Pfarrer unterstellt ist und als Katechet Religionsunterricht erteilt, beginnt er mit dem sexuellen Missbrauch an Schulmädchen. Nach den Taten, so zitiert die „Vorarlberger Wacht“ die ältere Schwester eines Opfers, erteilt er den Kindern gleich die Absolution, damit sie den Missbrauch nicht beim Pfarrer beichten.

Mehrere Opfer entziehen sich den Übergriffen zwar, indem sie vor ihm davonrennen, werden dafür aber, „weil sie Kaplan Düngler nicht gehorchten, von ihren Eltern, die nicht wußten, um was es sich handelte, gestraft“. Dass der Priester die 10- bis 14-jährigen Mädchen auch mit Geldgeschenken ins Pfarrhaus lockt, wird ihm schließlich zum Verhängnis. Der Vater eines Opfers wundert sich über das Geld, das er bei seiner Tochter findet. Als er sie darauf anspricht, vertraut sich ihm das Kind an und löst damit eine Lawine aus. Immer mehr Opfer werden bekannt. Im Jänner 1919 wird der Missbrauchsfall dann öffentlich.

Der Bildsteiner Pfarrer, der von allem nichts mitbekommen haben will, hält die Gemeindemitglieder vergeblich an, nichts von den Vorkommnissen zu erzählen, da dies eine Sünde sei. Die Oberin des Bildsteiner Armenhauses fordert laut Zeitungsbericht die Eltern der Opfer auf, die Missbrauchstaten „mit dem Mantel der Liebe“ zu bedecken. Außerdem solle man für den Täter beten, damit „die Strafe nicht so groß werde“. Die Nonne habe sogar Kinder vor dem Verhör versteckt und ihnen für den Fall einer Aussage mit Schlägen gedroht, berichtete die „Wacht“ weiter.

Streit über Vorgänge

Darüber, was genau nach der Aufdeckung von Dünglers Taten geschehen ist, herrscht schon kurz darauf Uneinigkeit in den Vorarlberger Zeitungen. Nach Darstellung der kirchenkritischen „Vorarlberger Wacht“ rückt im Jänner 1919 die Gendarmerie aus Schwarzach nach Bildstein aus, um den Geistlichen zu verhaften und ihn nach Feldkirch zu bringen. Die Kirche habe noch versucht, ihn in ein Strafkloster nach Tirol abzuschieben, was durch die Festnahme aber vereitelt worden sei. Die katholische Seite behauptet hingegen, Düngler habe sich selbst seinen Vorgesetzten gestellt. Für das „Volksblatt“, das der Kirche und der christlichsozialen Partei nahe steht, ist Dünglers Auffliegen auch deshalb unangenehm, weil er sich im „Piusverein“ engagiert hatte, der die katholische Öffentlichkeitsarbeit und damit auch die Zeitung unterstützt.

Spielball der Politik. Der tragische Missbrauchsfall wird in der aufgeheizten Stimmung zu Beginn der Ersten Republik rasch als politische Munition gegen die Kirche insgesamt genutzt. Die sozialdemokratische Parteizeitung „Vorarlberger Wacht“ berichtet in allen Einzelheiten über das Verbrechen.

„Der Umstand, daß Kaplan Düngler im Gefühle der Schuld selbst bei der kirchlichen Behörde erschienen ist, trägt einigermaßen dem gesunden, ungetrübten Rechtsbewußtsein des Volkes Rechnung.“

Vorarlberger Volksblatt vom 19. Jänner 1919

Das schwarze „Volksblatt“ sieht sich daher zur Stellungnahme im Missbrauchsfall genötigt. Darin wird eingeräumt, dass Kaplan Düngler nach seinem Geständnis nicht nur suspendiert wurde, sondern auch nach Innsbruck versetzt werden sollte. Der Priester habe sich „allem Anscheine nach im Sinne des § 128 St.G. vergangen“. Das Blatt wagt den Tatbestand der „Schändung“ im damaligen Strafgesetz nur derart verklausuliert wiederzugeben. Er entspricht dem heutigen sexuellen Missbrauch von Unmündigen. „Der Fall, daß ein Mann von so verantwortungsvoller Stellung das Vertrauen der ihm Anbefohlenen arg mißbraucht, ist tief bedauerlich und die unglückselige Tat auf das allerentschiedenste zu verurteilen“, so das „Volksblatt“ weiter. Dünglers Nachfolger wird bereits Ende Jänner aus Tirol nach Bildstein beordert.

Schwere Geschütze

Die kirchliche Darstellung der Selbstanzeige des Kaplans bei seinen Vorgesetzten beim Generalvikariat will das rote Parteiblatt nicht gelten lassen: „Du sollst nicht lügen!“, deklamiert die „Wacht“ in einem Artikel und verweist auf die Verhaftung Dünglers durch die Gendarmerie. „Wäre es ein Sozialdemokrat gewesen, so hätte man schon längst das ganze Ländle alarmiert“. Tatsächlich dürfte der Geistliche in Haft genommen worden und seine Versetzung nach Tirol damit gescheitert sein, denn er wird schließlich der Gerichtsbarkeit im Ländle überantwortet.

Die vorangegangenen Vertuschungsversuche und die schaumgebremste Reaktion der Kirche sorgen Anfang 1919 über Wochen hinweg für scharfe Kritik der Sozialdemokratie am schwarzen Presseorgan: „Was sagt das ,Vorarlberger Volksblatt‘ zu diesem Terror? Der schlechteste Christ (…) würde es nicht fertig bringen, ein solches Scheusal im Priestergewand in Schutz zu nehmen, aber diese Keuschheitsverwalter breiten über den Wüstling den Mantel der Liebe“, richtet die „Wacht“ scharfe Worte in Richtung der schwarzen Konkurrenz. Die Zeitung spart dabei auch nicht mit Polemik: Die Ordensfrau aus Bildstein, die den Opfern gedroht hatte, vermisse wohl selbst den Täter und solle den besagten „Deckmantel der Liebe“ gut für ihn aufbewahren, „damit sie ihn noch hat, wenn er wieder zurückkommt“.

Zurückhaltender reagiert die Zeitung der Großdeutschen, das „Tagblatt“, das sich in seiner Berichterstattung vorwiegend auf die „Wacht“ beruft. Man finde keinen Geschmack daran, sich „mit derartigen Wüstlingen abzugeben“, lässt die Zeitung nach etlichen Leserzuschriften wissen. Düngler habe aber wohl versucht, sich durch eine Versetzung der Strafverfolgung zu entziehen. „Wir verlangen, daß das Gericht über ihn spreche“, heißt es im Bericht.

Das Urteil fällt

Das Kreisgericht Feldkirch handelt den Fall Dünglers tatsächlich rasch ab und spricht ihn bereits im Februar 1919 der „Schändung“ schuldig. Das Urteil lautet auf sechs Monaten schweren Kerkers, der damals schwersten Haftform. Als mildernder Umstand wird gewertet, dass er sich selbst gestellt haben soll.

Die Kirche zieht den verurteilten Missbrauchstäter im Anschluss nicht aus dem Verkehr, sondern setzt ihn weiter als Priester ein. Er wird schließlich Pfarrer im Tiroler Pitztal. Von dort reist Leo Düngler 1934 noch einmal nach Vorarlberg, um in der Mehrerau sein 25-jähriges Priesterjubiläum zu feiern.

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