„Schulden verdreifachen sich in acht Jahren“

Zu Jahresbeginn ist der Andrang bei Schuldenberatungen häufig recht groß. Ob das heuer der Fall ist und wie die Situation aktuell ist, zeigt das Interview.
Laut Gläubigerschutzverbänden ist die Anzahl der Privatkonkurse im Vorjahr in Vorarlberg erstmals seit Pandemiebeginn wieder gestiegen und zwar um über zehn Prozent. Warum (erst) jetzt?
Simone Strehle-Hechenberger: Die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemiefolgen haben gegriffen. Viele Insolvenzen wurden verhindert, manchmal aber auch nur verzögert. Wir wissen aus Erfahrung, dass die Anstiege in wirtschaftlich schwierigen Zeiten immer zeitversetzt kommen. Die Menschen versuchen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, bevor sie zu uns kommen. Für viele ist das ein schwieriger Schritt. Das Thema Schulden ist sehr schambesetzt.
Steigende Kosten, ein Jahresbeginn, an dem oft Rechnungen fällig werden, Kredite für Weihnachtseinkäufe – wie groß ist jetzt im Jänner der Andrang bei der IfS-Schuldenberatung?
Wir haben 2022 einen Anstieg von rund 13 Prozent an Personen verzeichnet, die sich erstmals an die Schuldenberatung gewendet haben. Der Jänner ist oft ein starker Monat, weil – wie Sie sagen – Jahresbeiträge und Jahresabrechnungen schlagend werden und die ersten Raten für Weihnachtseinkäufe zu bezahlen sind. Da wird es für viele Menschen besonders eng. Eine Überschuldung baut sich aber in der Regel über einen längeren Zeitraum auf. Uns machen vor allem die steigenden Mieten, die steigenden Energiekosten und die Teuerung Sorgen. Leistbarer Wohnraum ist ein riesiges Problem. Der gemeinnützige Wohnbau ist in Vorarlberg mit zwölf Prozent sehr niedrig. Im Land der Häuslebauer können sich junge Menschen keinen Wohnraum im Eigentum mehr leisten. Wohneigentum war in unserem Land immer ein tragendes Modell der Altersvorsorge. Altersarmut wird in der Folge präsenter werden.

Was sind die häufigsten Gründe dafür, dass Menschen überschuldet sind und in die Schuldenberatung kommen?
Die häufigsten Gründe für Überschuldung sind Einkommensverschlechterung bzw. Arbeitsplatzverlust, gefolgt von Konsumverhalten. Bei Männern ist es häufig auch gescheiterte Selbstständigkeit. Das Gegenstück dazu sind Haftungen und Bürgschaften bei Frauen. Scheidung bzw. Trennung sind weitere Gründe. In der Praxis ist es aber oft eine Kombination von mehreren Faktoren.
Wie hoch ist der Anteil junger Menschen und was sind die Ursachen für die Zahlungsunfähigkeit?
Im langjährigen Schnitt sind circa fünf bis sechs Prozent unter 25 Jahre und rund 25 Prozent zwischen 26 und 35 Jahren. Wenn die Menschen zu uns kommen, haben sie meist jedoch schon eine längere Schuldenkarriere hinter sich. Wir beobachten mit Sorge, dass vor allem für junge Menschen der Kontoüberzug „normal“ ist. Der Kontoüberzug wird oft als Teil des Verfügbaren gesehen.
Wie erklären Sie sich das?
Bei jungen Menschen ist die Motivation, sich zu verschulden, oft die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Die entsprechende Kleidung, Auto, Urlaub, Handy ermöglichen soziale Teilhabe an einer Gruppe. Deshalb ist ein Konsumverzicht besonders schwer. Der Online-Kauf ermöglicht zudem bequem und ohne viele Hürden einen Einkauf von der Couch inklusive scheinbar vorteilhafter Ratenzahlungen und Kreditmöglichkeiten. Uns ist deshalb Finanzbildung besonders wichtig. Mit dem Vorarlberger Finanzführerschein sind wir daher in Schulen und Institutionen präsent, um Wissen und Bewusstheit im Umgang mit Geld zu vermitteln.
In welchen Größenordnungen bewegen sich die Schulden der Menschen, die zu Ihnen kommen?
Die durchschnittliche Verschuldung bewegt sich im Bereich von rund 80.000 Euro. Wichtig ist hier auch festzuhalten, dass es sich dabei nicht um die Grundschuld handelt, sondern der Betrag durch Zinsen, Betreibungskosten und Gerichtskosten gestiegen ist. Wir wissen, dass sich Schulden, wenn jemand zahlungsunfähig ist, binnen acht Jahren durchschnittlich verdreifachen.

Derzeit beträgt das Existenzminimum bei Pfändungen 1030 Euro. Die Schuldenberatungen fordern schon länger eine Anhebung auf die Armutsgefährdungsschwelle, die bei 1371 Euro liegt. Wie stehen derzeit die Chancen für eine Erhöhung?
Aufgrund der wirtschaftlichen Situation durch die Energiekrise und die Inflation vermutlich so gut wie noch nie. Die Erhöhung des Existenzminimums ist rechtlich an die Höhe der ASVG-Richtsätze gebunden. Deshalb bedeutet die Erhöhung dieser Richtsätze auch Mehrausgaben für den Steuerzahler beispielsweise für Pensionen. So lange diese Koppelung besteht, wird der Gesetzgeber zurückhaltend sein, weil es Mehrausgaben bedeutet. Eine reine Erhöhung des Existenzminimums ohne Koppelung an die ASVG-Richtsätze wäre politisch vermutlich leichter umzusetzen, weil dies dann nur zu Lasten der Gläubiger gehen würde.
Wie wirkt sich dieses niedrige Existenzminimum auf die Praxis aus?
In der Praxis bedeutet ein niedriges Existenzminimum bei gleichzeitig steigenden Kosten, dass unsere Klientinnen und Klienten kein Einnahmen-/Ausgabengleichgewicht mehr herstellen können. Da sie im Konkurs keine neuen Schulden machen dürfen, sind wir zunehmend mit Klientinnen und Klienten konfrontiert, die sich den Konkurs nicht leisten können. Sie bleiben im Schuldenturm gefangen mit gesundheitlichen und psychischen Folgen für die Schuldnerinnen und Schuldner, ihre Kinder und ihre Familien. Die volkswirtschaftllichen Kosten sind enorm. Wir wissen aus Studien, dass jeder Euro, den man in Schuldenregulierung steckt, den fünffachen volkswirtschaftlichen Nutzen hat.
Beim KSV1870 in Feldkirch geht man davon aus, dass die Zahl der Privatkonkurse heuer auf über 400 steigen wird – im Vergleich zu den rund 360, die im vergangenen Jahr eröffnet wurden (siehe dazu auch rechts, Anm.). Wie lauten Ihre Einschätzungen für 2023?
Wir gehen davon aus, dass die Anfragen aufgrund der Preissteigerungen in allen Bereichen steigen werden. Wir nehmen jetzt schon wahr, dass wir vermehrt Klientinnen und Klienten in der Beratung haben, die konkursreif sind. Somit gehen wir davon aus, dass auch die Konkurse steigen werden. Die IfS-Schuldenberatung wickelt 90 Prozent der Privatkonkurse ab. Wir tun, was wir können, um Menschen Perspektiven zu geben und bei der Entschuldung zu unterstützen. Allerdings sind uns hier personell auch Grenzen gesetzt.
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