„Mit den Jugendlichen, anstatt über sie reden“

pro mente Vorarlberg
Immer mehr Jugendliche in Vorarlberg benötigen psychosoziale Unterstützung. Versorgungsstruktur reicht angesichts der wachsenden Wartelisten bei Weitem nicht aus, Experten fordern Ausbau.
Das Institut für Jugendkulturforschung nennt sie Krisengeneration und hat damit wohl auch recht. Gemeint ist die Gruppe der 16- bis 22-Jährigen, die in ihrem noch jungen Leben bereits einiges verarbeiten musste: die Coronapandemie, den russischen Angriffskrieg, eine sich verschärfende Klimakrise. Doch was macht der andauernde Krisenmodus mit einer jungen Psyche?
Mehr Nachfrage
Der Bedarf an psychosozialer Unterstützung bei Jugendlichen in Vorarlberg ist gestiegen. Das merkte Stefan Gießauf auch in seiner täglichen Arbeit als Jugendsozialarbeiter des ifs: „Im Allgemeinen kommen die Anfragen der Jugendlichen – unter anderem durch Corona – gehäuft vor“, erklärt er. Diese Entwicklung ist dabei nicht nur auf das ifs begrenzt, auch bei Pro Mente Vorarlberg ist die Nachfrage höher als zu Vor-Pandemie-Zeiten: „Es melden sich definitiv mehr Jugendliche, Eltern und Lehrer mit der Bitte um Unterstützung als vor der Pandemie“, bestätigt Martina Schelling, Leiterin der Abteilung Kinder und Jugend Unterland. Sieht man sich die aktuellen Zahlen an, dann zeichnen auch diese ein eindeutiges Bild: während 2019 noch 254 Jugendliche vom ifs behandelt wurden, stieg die Zahl im Jahr 2022 auf 547.
Dass Corona zwangsläufig neue Probleme geschaffen habe, sieht Michael Simon, Leiter der Beratungsstelle Bludenz des ifs, allerdings nicht. Die Problemkonstellationen, mit denen die Jugendlichen oder Familien zu ihnen kommen, seien bekannt. Seiner Meinung nach hat Corona vielmehr dazu geführt, dass bestehende Probleme eher zum Vorschein gekommen sind. Gleichzeitig habe die Pandemie das Thema psychische Gesundheit – insbesondere bei Jugendlichen – mehr in den Fokus gerückt und damit auch zu einer größeren Wahrnehmung der Unterstützungsangebote geführt.
Gestiegenes Bewusstsein
Die Gründe, weshalb sich Jugendliche in Vorarlberg an eine psychosoziale Einrichtung wenden, sind vielfältig. Es geht um Überforderung oder Ausgrenzung in der Schule und Ausbildung, um Probleme innerhalb der Familie oder vermindertes Selbstwertgefühl, das laut Jugendsozialarbeiterin Anna Haubold auch durch die sozialen Medien verstärkt wird. Zeigen die Jugendlichen allerdings Symptome einer psychischen Erkrankung, werden sie vom ifs an die zuständigen Fachstellen weitergeleitet.
Dabei bemerkenswert: Immer mehr Jugendliche melden sich von allein. „Das ist ein Zeichen, dass die Gesundheitshygiene bei den Jungen zumindest teilweise funktioniert“, erklärt Haubold. Dieses gestiegene Bewusstsein führt sie ebenso auf den Konsum sozialer Medien zurück. „Immer mehr Personen des öffentlichen Lebens sprechen über ihre mentale Gesundheit und schaffen damit auch mehr Toleranz,“ stellt Haubold fest.

Individualität zulassen
Insbesondere bei Jugendlichen müsse dennoch strikt zwischen psychischen Erkrankungen und „normalen“ Belastungsreaktionen bzw. pubertären Verhalten differenziert werden, sind sich Haubold und Simon einig: „Nicht jeder Jugendliche, der von der Gesellschaft als auffällig bezeichnet wird, muss sofort zur Psychotherapie, auch weil Diagnosen oftmals mit einer Stigmatisierung einhergehen.“ Ihrer Meinung nach bräuchte es vor allem mehr Raum für Individualität und eine Offenheit, auch außerhalb der Norm zu denken.
Das wiederum gelte insbesondere für die Familie und das soziale Umfeld der Jugendlichen. Auch sie spielen eine wichtige Rolle in der täglichen Arbeit des ifs und Pro Mente. Denn oftmals seien Jugendliche Symptomträger anderweitiger Konflikte, wenn etwa von Ausgrenzung oder familiären Problemen die Rede ist. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die offene Kommunikation mit den Betroffenen, unterstreicht Simon: „Es wäre auch im Sinne der Gesellschaft, mehr mit den Jugendlichen, statt über sie zu reden.“
Versorgungsstruktur
Doch wie steht es um die vorhandene Versorgungsstruktur in Vorarlberg, jetzt da die Nachfrage steigt? „Es sind Ressourcen da, die sind auch sehr gut“, so Schelling. Allerdings seien sie derzeit angesichts der steigenden Wartelistenplätze noch nicht ausreichend. Bei Zahlen von rund 4000 Erstkontakten von Kindern und Jugendlichen im Jahr 2022 in Vorarlberg hält Schelling den Ausbau des Angebots für mehr als notwendig. Wird stationäre Betreuung benötigt, muss zudem auf einen der nur 36 Plätze im Land gehofft werden. Dabei sei laut Schelling insbesondere im Jugendalter eine schnelle und gezielte Versorgung wichtig, da sich bereits in kurzen Zeiträumen in der Entwicklung einiges tun kann. Hier bräuchte es noch mehr finanzielle und personelle Ressourcen, um eine schnelle Reaktion gewährleisten zu können.
Perspektivwechsel
Trotz steigender Nachfrage an psychosozialer Unterstützung, plädiert Anna Haubold dennoch für eine differenziertere Betrachtungsweise: „Wir sprechen und berichten sehr oft über die Probleme und Herausforderungen, mit denen Jugendliche heutzutage konfrontiert sind, vergessen dabei aber gleichzeitig, ihnen auch mal Respekt zu zollen. Denn sie haben trotz zahlreicher Krisen vieles gut gemeistert.“ Ein solcher Perspektivenwechsel würde laut Haubold auch den krisengebeutelten Jugendlichen zugutekommen.
Anlaufstellen
Institut für Sozialdienste
Jugendberatung Mühletor
Telefon +43 5 1755-565
E-Mail: jugendberatung.muehletor@ifs.at
Pro Mente Vorarlberg
Abteilung Kinder und Jugend
Telefon: +43 (5572) 21274 (Unterland) oder +43 (5525) 63829 (Oberland)
E-Mail: jugend.unterland@promente-v.at oder jugend.oberland@promente-v.at
Kinder- und Jugendpsychiatrie Rankweil
Sekretariat
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T +43 (0)5522/403-5100