Die fünfte Jahreszeit im Bregenzerwald

Im Frühling und im Herbst ist für vier Wochen eine besondere Zeit im Hinterwald: Mensch und Tier leben im Vorsäß. Eine Reportage aus Schoppernau.
Rund zehn Autominuten vom Dorfzentrum Schoppernau entfernt, fernab der Hauptstraße, liegt eine kleine, grüne Ebene am Fuße der Üntschenspitze und gegenüber den sandigen Ausläufern der steinigen Künzelspitze. Hier stehen 14 Holzhütten einträchtig nebeneinander. Es ist abends, die Sonne scheint nicht mehr auf das kleine Dörfchen Vorsäß Vorderhopfreben. Einige Kühe grasen zwischen den Hütten, ihre Glocken bimmeln, manchmal muht ein Tier. Hinter einer Hütte – es ist das Sennhaus – sitzen einige Männer, die allesamt grüne Kleidung tragen. Munter reden sie durcheinander, trinken ein Bier, ein Bub spielt Ziehharmonika. Sie sind Jäger, und sie feiern, dass einer von ihnen in der Nacht zuvor einen „kapitalen“ Hirsch – einen 16-Ender – in der Nähe des Vorsäßes geschossen hat. Eine junge Mutter und ihre drei Kinder ziehen los, um ihre Kühe zu holen. Bald darauf kommt der erste Bauer mit einem Gummiwagen, in dem drei silberne Milchkannen stehen, zum Sennhaus. Im Vorsäß Vorderhopfreben herrscht während der Vorsäßzeit reges Leben.

Vorsäße, die meistens höher als das Dorf liegen, gehören zur Dreistufenwirtschaft der Landwirtschaft im Bregenzerwald. Sie sind quasi die Mittelstation für die Kühe: Nachdem sie im Frühling zuerst im Tal gegrast haben, kommen sie für rund vier Wochen aufs Vorsäß, danach ziehen sie auf die dritte und höchste Stufe, die Alpe. Ist der Alpsommer vorbei, verbringen sie im Herbst erneut etwa vier Wochen im Vorsäß, danach geht es in die Heimbetriebe im Tal. Vor allem im hinteren Bregenzerwald werden Vorsäße noch häufig in dieser Form genutzt. In mehreren Vorsäßen leben nicht nur die Tiere dort, sondern auch die Bauersfamilien.

Ganz früher war das immer so, mit dem Aufkommen der Motorisierung aber versorgten viele Bauern ihre Tiere am Morgen und Abend im Vorsäß und fuhren dann wieder in ihr Dorf. Als ab den 1990er-Jahren viele Vorsäßhütten im Hinterwald – die Ställe und die Wohnträkte – umgebaut und modernisiert wurden, kehrten langsam auch die Familien ins Vorsäß zurück. Die Hütten waren viel komfortabler geworden: Es gab nun Strom und normale Toiletten anstatt Plumpsklos außerhalb der Hütte. Zeitgleich kehrte Fließwasser in die Häuser ein. Zuvor musste beispielsweise in Vorderhopfreben das Wasser aus dem Brunnen geholt werden, der im Zentrum des kleinen Dörfchens steht, beziehungsweise der eine oder die andere putzte dort auch die Zähne.

Martha Beer (81) aus Schoppernau lebt während der Vorsäßzeit seit vielen Jahren in Vorderhopfreben und kann sich gut an die früheren Zeiten erinnern. Damals wohnte sie mit ihren Kindern und ihrem mittlerweile verstorbenen Mann Wilhelm in der alten Hütte. „Das Gitterbett und alles andere, was wir brauchten, wurde auf den Traktor geladen, und so sind wir vom Dorf hereingezogen“, erzählt sie und erwähnt, dass solch eine Fahrt im Dialekt „Plunderfuhr“ heißt. Vieles hat sich seither geändert. Ob es früher schöner war als heute oder umgekehrt, kann sie nicht sagen. „Es ist ganz anders“, erklärt sie. „Den Strom gäbe ich jedenfalls nicht mehr her.“

Früher wie heute lebt sie die paar Wochen sehr gerne im Vorsäß: „Es ist meine zweite Heimat.“ Hier hat sie andere Nachbarn und andere Menschen um sich als im Dorf. Die Geselligkeit und die Gemeinschaft werden neben der Arbeit großgeschrieben – und zwar nicht nur von und mit den anderen Vorsäßbewohnern, sondern es kommt auch oft, wie es im Dialekt genannt wird, „Stubat“ von außerhalb; sprich: Besuch aus dem Tal.

In einer Hütte oberhalb derjenigen von Martha Beer wohnt Theresia Moosbrugger aus Au, im Talkessel hinter der Kanisfluh auch bekannt als „Beklars Thres“. „Seit immer schon“ lebt sie während der Vorsäßzeit hier. Die 91-jährige Frau ist rüstig und geistig in Topform. Gerne erzählt sie von früher, zum Beispiel, womit sie als Kinder hier gespielt haben: Mit Hölzchen bauten sie einen Zaun, mit Moos schufen sie eine Wiese und darauf platzierten sie Tannenzapfen, die die Kühe darstellten. „Wir waren mit wenigem zufrieden, und deshalb sind wir heute noch zufrieden“, sagt die lebenserfahrene Frau.

Auch ihre 26-jährige Enkelin Marika Beer aus Au wohnt während der Vorsäßzeit in der Hütte. Tagsüber arbeitet sie als Schreinerin im Tal, abends kommt sie ins Vorsäß, hilft bei der Stallarbeit, schläft hier und fährt morgens ins Dorf. In Vorderhopfreben kann sie abschalten, und auch wenn sie hier neben ihrem regulären Job zusätzlich im Stall arbeitet, „ist es gemütlich im Vorsäß“, wie sie sagt. Sehr gut gefällt ihr die Zeit in diesem kleinen Dörfchen, selbst wenn kaum Gleichaltrige hier leben. „Sie kommen mich aber gerne besuchen, weil sie sehen, wie schön es hier ist.“

Etwa im selben Alter, aber in einer anderen Lebensphase ist die 30-jährige Silvia Kohler aus Au. Ihr Mann Peter Kohler (38) ist der Senn des Vorsäßes, sie haben drei kleine Kinder. Im heurigen Herbst wohnten sie erstmals seit mehreren Jahren nicht durchgehend in Vorderhopfreben, weil die Älteste – Erika – im Herbst eingeschult wurde und es deshalb praktischer war, im Dorf zu bleiben. An den Wochenenden und manchmal auch an den Nachmittagen unter der Woche ist aber die ganze Familie im Vorsäß. Hier ist der Vater immer in der Nähe der Kinder, und sie wachsen ein wenig entfernt von Fernsehen, Handy und Co. auf. Wie einst die oben erwähnte „Beklars Thres“ spielen sie mit Tannenzapfen.

Apropos ältere Menschen: Silvia Kohler unterhält sich während der Vorsäßzeit oft mit ihnen und zieht den Schluss: „Es ist eine Ehre, das weitermachen zu dürfen, was sie aufgebaut haben.“