Das BIP ist ein sehr bewegliches Ziel

Alle paar Monate legen Österreichs Wirtschaftsforscher Prognosen vor, wie sich die heimische Wirtschaft in den folgenden Monaten bis Jahren weiterentwickeln dürfte. Publiziert werden auf die Kommastelle genaue Wachstumszahlen. Die Regierung, aber auch private Unternehmen bauen darauf ihre Planungen auf. Die Realität hält sich allerdings in der Regel nicht daran und entwickelt sich oft sogar deutlich anders. Dafür gibt es gute Gründe.
Vorweg: Wifo, IHS und Nationalbank machen im internationalen Vergleich gute Prognosen. Die Probleme mit den Wirtschaftsvorhersagen sind strukturell und treffen alle Prognosen weltweit. Mann müsse sich in klaren sein, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also die jährliche Wirtschaftsleistung in Österreich, “ein sehr bewegliches Ziel ist”, sagt Wifo-Experte Scheiblecker. Martin Schneider, Prognose-Experte der Nationalbank, sagt überhaupt, “die Wirklichkeit ist ein hypothetisches Konstrukt”. Daten bilden die Realität nur bedingt ab.
Daten sind nichts Fixes
Selbst im Nachhinein ist viele Jahre lang ungewiss, wie groß das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wirklich war. Die Statistik Austria als maßgebliche Instanz revidiert ihre Berechnung dafür auch noch nach Jahren, manchmal deutlich. “Das BIP ist bis zum Schluss nur eine Schätzung – die immer besser wird”, sagt dazu Schneider. “Wir kommen einer Idee, was in Summe produziert wird, immer näher. Die Realität lässt sich nicht genau messen.”
Gerhard Fenz, Leiter der Konjunkturabteilung der OeNB, schätzt, dass etwa ein Viertel des Fehlers in der Prognose aus nachträglichen Revisionen der Statistik Austria stammt. Wobei alle Gesprächspartner der APA Lob für die Statistiker äußern. Die Statistik Austria macht große Revisionen – aber international sind sie noch größer, sagt etwa Scheiblecker. Das Problem liege grundsätzlich in der Datenerhebung und der Abbildung der Wirklichkeit. Dazu kommt, dass alle 10 bis 20 Jahre das Grundkonzept, wie das BIP zu berechnen ist, überdacht wird. Das führt wieder zu Neuberechnungen.
“Schocks können wir nicht vorhersagen”
Ein anderes Problem sind unvorhersehbare Ereignisse. “Schocks definieren sich daraus, dass sie unerwartet sind”, hält OeNB-Experte Fenz trocken fest und Wifo-Experte Scheiblecker stellt klar: “Schocks können wir nicht vorhersagen.” Denn die Vorhersage schreibt – mit qualifizierten Schätzungen zu absehbaren Veränderungen – die Gesetzmäßigkeiten aus der Vergangenheit weiter. IHS-Chef Holger Bonin nennt es “Status Quo Schätzungen”.
Plötzliche Positionsänderungen von US-Präsident Donald Trump zu Zöllen sind ebenso wenig enthalten wie der Ausbruch des Krieges in der Ukraine oder die Turbulenzen rund um die Corona-Pandemie. Deshalb lagen die Prognosen für 2020 – Ausbruch der Coronapandemie – außergewöhnlich weit daneben.
Selbst bei absehbaren Entwicklungen wie dem aktuell im Parlament liegenden Strommarktgesetz muss diskutiert werden, ob es in die Prognose einfließt – je nachdem für wie sicher die Umsetzung gehalten wird. “Das ist eine Abwägungssache”, so IHS-Prognoseexperte Sebastian Koch. Unter Umständen reagiere die Politik auch auf die Prognose und setze Maßnahmen – was natürlich wieder die Realität von der Prognose abweichen lässt.
Annahmen als große Unsicherheit
Dazu kommt, dass Prognosen gewisse Annahmen für die Zeitperiode enthalten – etwa wie hoch der Ölpreis oder der Wechselkurs zwischen Dollar und Euro sein werden. Wissen kann das niemand, ohne solche Schätzungen funktionieren aber Vorhersagen nicht. Das ist sogar “der größte Brocken” beim Prognosefehler, sagt Fenz. Das sei für eine kleine, offene Volkswirtschaft wie Österreich, die von Entwicklungen im Ausland stark abhängt, nicht überraschend. Manches deute darauf hin, dass “die Annahmen fast wichtiger sind als die Modelle für die Prognosequalität”.
Auch Vorhersagen zur wirtschaftlichen Entwicklung im Ausland sind ein Unsicherheitsfaktor für die Österreich-Prognose. Sie sind aber unerlässlich für ein Export-orientiertes Land wie Österreich.
Modellrechnung braucht Interpretation durch Experten
Alle Institute stützen sich für ihre Vorhersagen für das nächste und übernächste Jahr auf – jeweils mehrere – Modellrechnungen. Diese werden aber mit Expertenwissen spürbar nachjustiert. Die Rechnung des Modells sei “ein erster Vorschlag”, nennt es Scheiblecker. Denn das Modell wisse nicht, was sich im Vergleich zur Vergangenheit geändert hat. “Diese Abweichungen glauben wir, dass wir aufgrund eingetroffener Daten für das aktuelle Jahr ein bisschen besser einschätzen können und da greifen wir dann natürlich ein”.
Vor allem einmalige Ereignisse in Modelle einzubauen ist aufwendig und bringt wieder neue Unsicherheiten ins System. Der Computer muss dann wieder einen Tag lang rechnen, auch dieser Aufwand ist zu berücksichtigen. “Modelle sind nie perfekt, sie können und sollen auch nicht alles abbilden”, fasst Bonin den Bedarf nach Experten zusammen.
Die Arbeit mit mehreren Modellen bringt zwar mehr Präzision, aber zugleich zusätzliche Expertenarbeit. Denn die Ergebnisse der verschiedenen Modelle müssen untereinander in Einklang gebracht werden. “Da kommt die Kunst der Konjunkturforschung dazu” sagt Bonin.
In Wahrheit sei “die halbe Mannschaft” am Wifo irgendwie mit Expertise in die Konjunkturprognose eingebunden. Eine Abänderung des vom Modell ausgespuckten Werts um ein paar Zehntelpunkte sei schon in Ordnung. Auch wenn manchmal “ein Bauchgefühl” mit spiele, habe dies seine Berechtigung, so Scheiblecker. IHS und OeNB haben zwar ein kleineres Team mit der Prognose befasst, Teamarbeit bleibt es aber bei allen. Außerdem wird auch mit Experten außerhalb des eigenen Hauses Kontakt gehalten, um Zusatzwissen einfließen zu lassen.
Modelle ohne viel Interpretation reichen nur für kurzfristige vorhersagen, etwa für das kommende Quartal, erläutert OeNB-Experte Schneider. Im Prinzip keine Prognose mehr sondern eine Schätzung des Potenzialwachstums der Wirtschaft ist die Vorhersage für in drei Jahren, die in Österreich nur von der OeNB veröffentlicht wird. “Da stochern wir komplett im Dunkeln”, räumt Schneider ein. Die Europäische Zentralbank brauche aber 2025 schon einen Wert für 2028 für ihren Banken-Stresstest.
Daten müssen erklärt werden
Es reicht ja auch nicht, ein “Zahlengerüst” zu publizieren, ergänzt Schneider. Es geht um “eine Story, die wir versuchen herauszuarbeiten”. Dazu sei aber eine gute – menschliche – Analyse der Vergangenheit nötig. Etwa, dass der Konsum trotz hoher Reallohnsteigerungen nicht zulege – weil es “die Leute auf die hohe Kante legen”. Und dann sei wichtig, wie die OeNB einschätzt, dass es mit der Sparquote weitergeht. Oder eine Einordnung, wie die Qualitätsverbesserungen in Chinas Industrie auf die heimische Exportwirtschaft zurückwirken.
“Abgesehen davon, dass man wissen will, wo die Reise hingeht, ist die Prognose für die OeNB ein ganz wichtiges Kommunikationstool”, sagt Fenz. Auch geldpolitische Entscheidungen ließen sich damit besser in der Öffentlichkeit erklären.
Auch Scheiblecker verweist darauf, dass die der Öffentlichkeit präsentierten Daten auch verteidigt werden müssen. “Ein Modell könnte man mit einer Person betreiben, aber dann gibt es keine Geschichte dazu”.
Prognosen näher aneinander als an der Wirklichkeit
Obwohl verschiedene Modelle zum Zuge kommen, liegen am Ende die Prognosen der drei Institute näher aneinander als an der letztlich von der Statistik Austria ausgewiesenen Wachstumsrate. “Prognosen unterschiedlicher Institutionen sind stärker untereinander korreliert als mit den realisierten Daten”, heißt es in einer Analyse von Philip Schuster für den Fiskalrat. Es lasse sich auch keine Reihung der Institute nach Prognosequalität zeigen. Die Prognosen würden zwar Auf- und Abschwünge jeweils unterschätzen, sie hätten aber über die Jahre keine Tendenz zu einer Über- oder Unterschätzung des BIP.
Besser Prognose mit Unsicherheit als keine Prognose
Für die Politik ist die Prognose trotz der Unsicherheiten wichtig, sind sich die Wirtschaftsforscher sicher. Auch bei einem Bauprojekt steigen oft noch die Kosten. “Selbst wenn sich die Pläne ändern, man muss von einer Planung ausgehen”, vergleicht es Scheiblecker. Dann kann man bei Abweichungen Maßnahmen ergreifen.
Bonin weist darauf hin, dass ein Zehntelprozentpunkt mehr oder weniger nicht viel aussage. Aber für die Politik sei es wichtig zu sehen, wenn es mit dem BIP bergab geht und zur Einhaltung des Maastricht-Defizits wohl mehr Anstrengungen nötig werden. Die Prognose gebe dann in den Detaildaten auch die Hinweise, in welchen Sektoren Eingriffe nötig oder sinnvoll wären.
Auch Fenz weist die Kritik an Prognosefehlern zurück. “Die Politik weiß ja über alle Prognoseunsicherheiten Bescheid”, mit dem Wissen müsse die Politik agieren. Aber ohne Daten könne sie nicht aktiv werden.
Eingriffsmöglichkeit der Politik nicht überschätzen
Man sollte die Möglichkeiten der Politik zu Eingriffen in die Konjunktur – also die kurzfristigen Wirtschaftsschwankung – auch nicht überschätzen, warnt Bonin. Wenn die Prognose nun 0,1 Prozent Schrumpfung vorhersage, habe die Politik meist nicht die Instrumente, diesen Wert positiv zu beeinflussen – ganz abgesehen davon, dass es sich im Nachhinein herausstellen könnte, dass das Wirtschaftswachstum ohnehin anders kommt. Eingriffe sollten daher eher strukturell sein und nicht konjunkturell.
In der Realität könne man feststellen, dass auf Basis der Prognosen trotzdem Politik gemacht und konkrete Maßnahmen damit begründet werden – “aber unsere Daten geben das nicht her”, so Bonin.
Auch Unternehmen und Konsumenten brauchen Prognosen
Nicht nur die öffentliche Hand braucht gute Prognosen und aktuellen Einblick in das Wirtschaftsgeschehen. Auch für die Entscheidungen von Verbrauchern und Unternehmern ist das wichtig, geben Koch und Bonin zu bedenken. “Eine gute Information darüber, was gerade passiert, ist für sich genommen ein Wachstumsfaktor. Auf Basis von Fake News zu informieren ist nicht gut. Das ist schon eine Aufgabe der Wirtschaftsforschungsinstitute.”
Denn wenn Menschen die Informationen abrufen, “rufen sie ja nicht ab: 0,3”, so Bonin. Sondern sie wollen genaue Daten zu verschiedenen Teilbereichen. Daher sind die Details und Begründungen in den Prognosen oft wichtiger als der eine, scheinbar präzise Wert für das erwartete Wirtschaftswachstum.
Gute Daten Voraussetzung für Verbesserungen
Eine Verbesserung der Datenlage wäre die Voraussetzung, damit Prognosen noch besser werden können, sind sich die Experten einig. So wäre es sinnvoll, die Statistik Austria mit mehr Ressourcen auszustatten. Die Arbeit dort habe sich in letzter Zeit deutlich verbessert, etwa bei der Kommunikation oder Revisionen mit Begründungen, aber bei den Ressourcen gäbe es “noch Luft nach oben”, sagt Fenz.
Einfach nur mehr Informationen von Konsumenten oder Firmen abzufragen ist aber problematisch, warnen die Konjunkturexperten. Denn inzwischen werden so viele Daten erhoben, dass die Bereitschaft mitzumachen nachlässt. “Die Leute sind müde geworden. Weil es so einfach geht, werden viele Daten erhoben und man weiß manchmal gar nicht mehr, zu welchem Zweck sie da sind”, so Bonin. Bei Bürgern gebe es teils auch ein Misstrauen gegen den Staat und Angst, dass persönliche Informationen öffentlich werden könnten.
Hilfreich wären da “Echtzeitdaten”, die “sowieso existieren und automatisch abgegriffen werden können” und als Indikatoren für wirtschaftliche Entwicklungen genutzt werden können. Wenn etwa aus den SAP-Daten von Firmen anonymisierte Arbeitszeiten automatisch ausgelesen werden könnten, hätte man mit geringen Kosten “saubere” Daten, sagt Koch.
Von den Prognoseexperten werden auch Lkw-Fahrleistungen, die monatlich von der Asfinag geliefert werden oder der Stromverbrauch der Industrie genannt. Gerade diese Datenübermittlung von einer Stromgesellschaft sei aber nach einer Probezeit wieder eingestellt worden, bedauert Schneider. Paketaufkommen der Post, Daten aus den Supermarktkassen oder Überweisungsaufkommen der Kreditkartenfirmen wären andere hilfreiche Informationen, um die aktuelle Lage der Wirtschaft besser erfassen zu können – was auch eine Voraussetzung für bessere Prognosen ist.
Bessere Information braucht mehr Ressourcen
Es wäre der “große Wunsch an die Politik”, dass die Statistik Austria mehr Ressourcen erhält, für die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, um die Daten zu verbessern, sagt Fenz und dem stimmen alle anderen mit unterschiedlichen Formulierungen zu. Man müsse bedenken, dass die Prognosen vor allem auf Daten der Statistiker beruhen. Auch die Anforderungen aus Europa würden laufend steigen, was ebenfalls Ressourcen verbrauche.
Für eine bessere Informationsbasis im Land, wären mehr Ressourcen nötig. Nur nach mehr Geld zu rufen würde aber zu kurz greifen, sagt Bonin: “Wir haben Potenzial auch mit den vorhandenen Daten noch viel mehr Dinge zu tun. Wir könnten mehr positive externe Effekte erzeugen, das wäre es wert”. Voraussetzungen für gute Prognosen zu schaffen sei “kein Bereich wo man sparen sollte”, denn wenn man Verunsicherung auflösen könnte, würden wieder alle profitieren.
Prognosezeitpunkt spielt eine große Rolle
Spürbar haben aber Wifo und IHS Nachteile, weil sie jeweils die ersten sind, die ihre Prognosen vorlegen. Das zeigte sich ganz krass vor der Corona-Krise von 2020, schreibt Schuster vom Fiskalrat. Das Jahr 2020 war aber von der Abweichung der Realität von den Prognosen her so außergewöhnlich, dass es sogar die Bewertung der Prognosequalität über 18 Jahre beeinflusste.