Unsichtbare Verletzung mit großen Folgen

Das Olympiazentrum Vorarlberg veranstaltet am 17. Oktober im Sportgymnasium Dornbirn das Sportsymposium „BrainCrash – Gehirnerschütterungen verstehen, erkennen handeln“. Zwei Experten im NEUE-Gespräch.
Bei komplexen Themen sind oft die einfachsten Fragen zu Beginn die sinnvollsten: Woran liegt das eurer Meinung nach, dass Gehirnerschütterungen noch immer massiv unterschätzt werden? Liegt es daran, dass man die Verletzung nicht mit freiem Auge sehen kann?
Marc Sohm: Es ist wirklich die einfachste Frage zu Beginn, aber es ist eine, die uns sofort auf den Punkt kommen lässt. Viele Menschen kennen die Ursachen einer Gehirnerschütterung nicht. Sie befassen sich auch nicht mit dem Unfallmechanismus, also mit dem Hergang ihres Unfalls und was der Unfall mit ihrem Körper gemacht hat. Darum wissen sie nicht, mit was für körperlichen Folgen sie nach einem Unfall rechnen müssen. Dieses Nicht-Erkennen der Ursachen und der Folgen ist eines der größten Themen. Daraus entstehen dann so Beschwichtigungen wie: „Das war eh nur ein Sturz auf den Kopf.“ Oder: „Ich war halt nach dem Sturz ein bisschen beduselt.“ Es werden also Unfallabläufe falsch eingeschätzt und klare Symptome für eine Gehirnerschütterung von der Allgemeinbevölkerung nicht als solche erkannt. Dieses Nicht-Erkennen führt zu einem Nicht-Berichten. Also: Man konsultiert keinen Arzt und wenn, dann berichtet man ihm nur von der Prellung am Knie, aber nicht von den Kopfbeschwerden, die als Kopfweh abgetan werden. Im Spitzensport erkennt man zwar deutlich öfter die Symptome, aber da stoßen wir auf den Druck, dass die Athleten spielen wollen und glauben, spielen zu müssen: „Ich habe einen Wettkampf und ich möchte natürlich meine Trainer und mein Umfeld nicht enttäuschen.“ Deshalb werden die Beschwerden verschwiegen. Es gibt also zwei Hauptprobleme im Umgang mit Gehirnerschütterungen: Das Nicht-Erkennen und das Nicht-Berichten.
Marc Philippe: Wir haben vor allem auch mit sehr vielen Mythen zu kämpfen in diesem Bereich. Wenn über eine Gehirnerschütterung berichtet wird, ist oft von einer leichten Gehirnerschütterung die Rede. Eine leichte Gehirnerschütterung gibt es de facto nicht, eine Gehirnerschütterung ist eine Verletzung.
So, wie früher von leichten Zigaretten die Rede war?
Philippe: Ja, das ist ein guter Vergleich. Dann ist ein Thema, auch das haben Sie richtig angesprochen, dass eine Gehirnerschütterung von außen nicht sichtbar ist. Das unterscheidet die Person von jemandem, der mit einem Gips oder auf Krücken rumläuft, da ist es offensichtlich, dass der ein Problem hat, dass eine Verletzung vorliegt. Beim Kopf ist alles drinnen, und es ist sogar für Ärztinnen und Ärzte, für Fachpersonen, nicht immer leicht zu erkennen, was da los ist, weil es eben nicht die Röntgenbilder gibt, wo ich drauf schaue und relativ klar einen Bruch erkennen kann. Das heißt, wir haben es mit einer Vielfältigkeit von Symptomen zu tun, die dann mit Mythen vermischt werden. Eine Verallgemeinerung ist: Wenn die Person nicht bewusstlos war, war es keine Gehirnerschütterung. Das stimmt nicht, weil in der größten Mehrheit der Fälle tritt diese Bewusstlosigkeit nicht ein. Und dann ist da noch der Mythos, dass eine Gehirnerschütterung ein mehrfaches Sich-Übergeben auslöst. Auch das ist nicht immer der Fall. Das heißt, es gibt unfassbar viel Unwissen, eine Diagnose kann selbst für Fachpersonen schwierig sein, denn, und damit schließt sich wieder der Kreis: Der Betroffene stellt oftmals keinen Zusammenhang zwischen seinem Impact gegen den Kopf und einer möglichen Gehirnerschütterung her.
Verknappt ausgedrückt: Ich bin zwar auf den Kopf gefallen, aber ich war ja nicht bewusstlos, übergeben habe ich mich auch nicht, also kann es schon mal keine Gehirnerschütterung sein – und für die Prellung am Knie hole ich mir eine Salbe in der Apotheke?
Philippe: Das ist gar nicht verknappt ausgedrückt, das ist oft die Realität.
Dann kommen wir doch zur nächsten einfachen Frage: Was sind denn die Symptome, die tatsächlich auf eine Gehirnerschütterung schließen lassen?
Sohm: Es gibt zwei ganz wichtige Faktoren, die eintreten müssen, dass überhaupt eine Gehirnerschütterung stattfinden kann. Erstens der Unfallmechanismus: Beschleunigung und Abbremsung des Körpers mit Impulsübertragung auf die Halswirbelsäule und oder den Kopf oder den direkten Anprall des Kopfes gegen eine Oberfläche. Zweitens, dass danach Symptome auftreten. Wenn wir von Spitzensportlern sprechen, hilft uns heutzutage, dass nicht nur die Wettkämpfe, sondern auch die Trainings oft mit Videoaufnahmen dokumentiert sind. Die Bilder zeigen den Unfallhergang und schlüsseln auf, ob überhaupt eine Gehirnerschütterung eingetreten sein kann. Fällt das Kind von eineinhalb Metern auf den Kopf ist klar, dass aufgrund des Unfallhergangs eine Gehirnerschütterung möglich ist, genauso verhält es sich beim Radsturz auf den Kopf, ein Helm schützt da zwar vor schwereren Verletzungen, aber nicht davor, dass sich das Hirn im starren Schädel bewegen kann und somit eine Gehirnerschütterung stattfindet. Also der Unfallmechanismus ist wesentlich.
Und die Symptome?
Sohm: Die Symptome können sofort, aber bis zu 48 Stunden verzögert auftreten. Das heißt, vom Zeitpunkt null von der Verletzung können bis zu 48 Stunden später neue Symptome auftreten. Nach einem Unfall bin ich vielleicht adrenalingeladen und spüre nicht gleich etwas. Aber ich schlafe schlecht. Schlechter Schlaf ist ein wesentliches Symptom. Ist vielleicht mein Sehen irritiert, was ich mitunter gar nicht sofort so bewusst wahrnehme. Wir haben bei unseren Sportlern folgende Symptome beim Sehen dokumentiert: Kontrastsehschwäche, Blickfokussierung fehlt, Augenfolgebewegungen sind ein Problem. Bei jeder ersten Diagnostik findet immer ein visueller Check statt. Es sind nicht alle Personen visuell betroffen, aber nachdem Blickfokussierung, Blickstabilisierung und auch Augenfolgebewegungen ein so komplexer Vorgang im Hirn ist, müssen diese Funktionen unbedingt überprüft werden.
Philippe: Vielleicht noch ergänzend für die Allgemeinbevölkerung zum einfachen Verständnis: Die großen Leitsymptome für eine Gehirnerschütterung sind: Kopfschmerzen, emotionale Probleme, Konzentrationsstörungen und Schlafprobleme. Tritt eines dieser Symptome auf und war der Unfallmechanismus so, dass eine Gehirnerschütterung möglich ist, liegt sehr wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung vor. Gerade dann, wenn die Symptome nicht akut nach dem Unfall, sondern erst einen Tag oder 48 Stunden später auftreten, muss man hellhörig werden. Wenn also auf einmal Konzentrationsschwierigkeiten auftreten, man unerklärlich emotional ist oder ständig schläfrig oder eben gar nicht gut schlafen kann, dann kann das trotz des zeitlichen Abstands mit dem Unfall zusammenhängen.
Wie verläuft bei einem Spitzensportler die Reha nach einer Gehirnerschütterung?
Sohm: Wenn der Sportler zu uns ins Olympiazentrum mit einer möglichen Gehirnerschütterung kommt, werden die Symptome mittels SCAT6 (Anm.: Sport Concussion Assessment Tool 6) dokumentiert. Dann sieht man eigentlich erst, wo die Themen sind. Es treten sehr oft emotionale Probleme auf, dass die Personen aufgerieben, weinerlich, betrübt sind. Kopfschmerz ist ein sehr häufiges Symptom, das viele haben. Schwindel ist ein weiteres Symptom, welches die Athleten und Athletinnen berichten oder eben Sehstörungen und Gleichgewichtsprobleme. Und man weiß, umso höher der Symptom-Score zu Beginn ist, umso länger wird es dauern, bis die Leute zurückkommen. Das heißt, wenn wir eine hohe Symptombelastung zu Beginn haben, kann man davon ausgehen, dass der Return to Sport, School, Play immer länger dauert. Es gibt also emotionale, kognitive und körperliche Symptome sowie Schlafstörungen.
Fortsetzung nächsten Sonntag