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“Covid-19 überfordert alle”

26.10.2020 • 11:00 Uhr
Die Corona-Krise setzt auch der Psyche zu.                                           <span class="copyright">Shutterstock</span><br>
Die Corona-Krise setzt auch der Psyche zu. Shutterstock

Psychotherapeut Günther Rösel über eine Gesellschaft in der Krise.

Laut einer aktuellen repräsentativen Wiener Studie hat sich in der Bundeshauptstadt bei mehr als einem Viertel der Befragten die psychische Gesundheit während der Pandemie verschlechtert. Glauben Sie, dass man diese Zahl auch auf Vorarlberg übertragen kann?
Günther Rösel:
Das glaube ich schon. Bei Menschen, die bereits vorher erhebliche psychische Belastungen gehabt haben, hat die Corona-Zeit diese massiv verstärkt. Diese Menschen sind durch Corona geradezu emotional attackiert worden. Menschen, die schon vor dem Lockdown im Frühjahr in einem relativ stabilen psychischen und sozialen Kontext gelebt haben, sind wesentlich besser durch diese Zeit gekommen.

Welche psychischen Störungen tauchen in Zusammenhang mit der Pandemie am häufigsten auf?
Rösel:
Meinem Eindruck nach sind es vor allem depressive Episoden, Stimmungsschwankungen und die ganze Palette an Ängsten. Auch psychosomatische Erkrankungen haben nach meinem Eindruck zugenommen. All diese Menschen tun sich oft schwer, einen Zugang zu sich zu finden, sich zu artikulieren. Eine Pandemie in dieser Dimension stöbert dann alles auf, was unter den Teppich gekehrt wurde.

Wie unterscheidet sich die aktuelle Corona-Situation vom Frühjahr?
Rösel:
Im Frühjahr war das Ganze noch nicht chronisch. Da gab es eher die Ansicht, okay, jetzt gibt es den Lockdown, der ist hoffentlich zeitlich überschaubar und es betrifft alle Menschen. Zudem war beinahe immerzu schönes Wetter. Jetzt steht der Winter bevor, Weihnachten kommt und das Wetter war in letzter Zeit oft ziemlich schlecht. Und in der Zeit vor Weihnachten sind die depressiven Einbrüche viel stärker als sonst und daher ist die Situation jetzt noch einmal zugespitzter.

Der Psychotherapeut und Psychoanalytiker Günther Rösel.   <span class="copyright">Todorovic</span>
Der Psychotherapeut und Psychoanalytiker Günther Rösel. Todorovic

Wie können Ängste genommen werden?
Rösel:
Das braucht seine Zeit, aber es ist möglich, sich allmählich besser verstehen zu lernen. Dadurch lernen Menschen, mit sich besser umzugehen. Man muss unterscheiden: Ein Stück weit haben alle Menschen in der Situation, die wir jetzt erleben, Ängste. Es gibt eine ganz reale gesunde Angst, sich dem stellen zu müssen, was da auf die Menschheit weltweit zugekommen ist. Krisen und leichtere Stimmungsschwankungen sind ja normal, gehören zum Leben. Das Entscheidende ist, welche psychische Struktur hat ein Mensch. Hat er eine Resilienz, Widerstandskraft? Hat er im Leben schon Krisen durchgestanden und weiß dadurch, es geht irgendwie immer weiter? Menschen, die eine belastende Lebensgeschichte mit sich tragen, eine fragile psychische Struktur haben, sind jetzt viel brüchiger und die brauchen mitunter therapeutische Hilfe.

Mit Fortdauer der Pandemie scheint die Zahl derjenigen, die bereit sind, an Verschwörungstheorien zu glauben, größer zu werden. Täuscht der Eindruck?
Rösel:
Nein, aber das erstaunt mich auch nicht. Der Philosoph Jürgen Habermas hat das in einem Interview sehr schön beschrieben. Er hat gesagt, wir sind jetzt alle mit einer radikalen Unwissenheit in Bezug auf das Virus konfrontiert. Auch die Wissenschaftler und Politiker können sich nur Schritt für Schritt zu mehr Wissen annähern. Wir wissen einfach ganz vieles noch nicht. Wir Zeitgenossen haben immer geglaubt, wir wissen eigentlich alles und in kürzester Zeit kann man alles lösen. Und jetzt sehen wir, dass es auch bei Wissenschaftlern so viele verschiedene Positionen und Einschätzungen gibt. Es kommen in manchen Medien ja teilweise die abstrusesten Experten vor.

Was hat das zur Folge?
Rösel:
Der Mensch heute kann sich seine Meinungen und Wahrheiten im Supermarkt der Eitelkeiten aussuchen. Die Gefahr ist eben, dass diese radikale Unwissenheit nicht akzeptiert wird. Es wird eine größenwahnsinnige, infantile Position des Wissens eingenommen. Vermeintliches Wissen, das absolut gesetzt wird. Habermas betont, dass es darum geht, diese Unwissenheit letztlich auszuhalten. Und trotzdem muss jeder Mensch in dieser Unsicherheit auch handeln und leben. Das ist für uns alle lästig und eine tägliche Herausforderung.

Zur Person

Günther Rösel

Studium der Psychologie, Philosophie, Erziehungswissenschaften und Politikwissenschaften, Promotion zum Dr. phil.

Gesprächspsychotherapie- und psychoanalytische Ausbildung.

Seit 2011 freie Praxis als Psychotherapeut und Psychoanalytiker in Dornbirn.

Warum klammern sich Menschen dabei aber oft an schon sehr abstruse Konstrukte?
Rösel:
Weil sie dem verängstig­ten Kind in uns Halt geben. Es gibt ja auch Mediziner, die sagen, die ganze Covid-19-Geschichte ist völlig ungefährlich und vergleichbar mit Erkältungen. Wenn ich das dann fest glaube, dann kann ich mich einmauern, Ängste und Unsicherheiten verleugnen. Dann sind sie scheinbar verschwunden.

Gibt es Menschentypen, die mehr beziehungsweise weniger dafür zugänglich sind?
Rösel:
Menschen, die glauben, dass die Welt berechenbar und eindeutig ist. Menschen, die Widersprüche nicht aushalten, sind anfällig für Pseudowahrheiten. Nur: Das Leben ist voller Widersprüche, der Mensch ist in sich voller Widersprüche. Es ist alles uneindeutig und vielfältig.

Kann der Glaube an derartige Verschwörungstheorien für das Individuum gefährlich werden?
Rösel:
Das Gefährliche ist, dass der Kontakt zu sich selber, zur eigenen inneren Welt verlorengeht. Das Leben ist voller Ambivalenzen. Letztlich ist es auch ein Gesundheitsrisiko. Es geht jetzt nicht darum, dass wir uns mit Covid-19 in eine Panik hineinmanövrieren. Wir müssen eine Balance finden: auf der einen Seite vorsichtig zu sein und uns mit all den notwendigen Maßnahmen zu schützen und auf der anderen Seite doch so gut wie es irgendwie geht unser Leben zu leben und uns nicht gänzlich den Spaß daran verderben zu lassen. Das ist auch so ein Widerspruch, mit dem wir eben leben müssen, aber eben doch auch leben können.

Wobei der Widerstand gegen die Maßnahmen stärker zu werden scheint. Warum?
Rösel:
Angela Merkel hat das treffend formuliert: Diese Pandemie ist eine Zumutung für die Demokratie. Das Ertragen des Virus, all die Einschränkungen in unserem Leben sind eine Zumutung. Es hat sich ja gezeigt, dass Covid-19 alle, auch die Politik, massiv überfordert. Auch Politiker müssen laufend dazulernen, so wie die Wissenschaft. Es gibt dieses abgesicherte Wissen nicht. Jetzt kommen die Menschen drauf, dass es diesen allmächtigen Vater, diese allmächtige Mutter, den allmächtigen Staat nicht gibt. Illusionen. Wenn man dann so tut, als ob das alles nicht wäre, kann man sich wieder in eine kindliche Allmachtsphantasie flüchten.

“Jetzt kommen die Menschen drauf, dass es diesen allmächtigen Vater, diese allmächtige Mutter, den allmächtigen Staat nicht gibt.”

Günther Rösel, Psychotherapeut

Wie kann sich eine sehr wahrscheinlich noch längere Fortdauer der Pandemie auf die psychische Gesundheit auswirken?
Rösel:
Auch da ist es so: Die Menschen, die eine gewisse Resilienz, also innere Widerstandskraft besitzen, werden diese Virus-Erfahrungen auch als Zumutung erleben, aber eben auch sehen, das gilt es jetzt auszuhalten, das gehört zu unserem Leben. Diese Menschen werden aus dem lernen und im Verbund mit der Politik schauen, dass das soziale und das Gesundheitssys­tem auch abgesichert wird. Das würde auch heißen, dass man gesundheits- und sozialpolitisch Konsequenzen aus der Pandemie zieht, dass man sagt, wir müssen sehr gut auf Sozialstaat und Gesundheitssystem achten. Das wäre die Chance, dass die Gesellschaft durch so eine Pandemie auch sozialer und erwachsener wird.

Und die anderen?
Rösel:
Dann wird es einen Teil der Menschen geben, das ist in etwa das eingangs erwähnte Viertel, die aufgrund ihrer Lebensgeschichte, ihrer sozialen Situation oder aktuellen Belas­tungen in einer Fragilität leben. Diese Menschen sind davon bedroht, dass sich ihr Zustand verdüstert. Auf diese Menschen müssen Politik und Gesellschaft schauen. Sie dürfen nicht verloren gehen.

Wie groß ist diese Chance, auch angesichts weniger werdender Gelder?
Rösel:
Das ist vermutlich eine etwas idealistische Utopie. Aber dafür würde es sich lohnen zu kämpfen. Letztlich wird es eine spannende Frage sein, wohin sich die Gesellschaft entwickelt, wenn es einen Impfstoff gibt und sich die Situation wieder stabilisiert. Geht es wieder in die Richtung wie es war, also Richtung Turbokapitalismus? Oder entstehen weitere gesellschaftliche Strömungen wie die Fridays-for-Future-Bewegung. Ich würde auf Letzteres hoffen, eine Bewegung, die sagt, wir müssen was lernen draus. Da geht es um die Gesundheit, die Psyche der Menschen, um die Art, wie wir als Gesellschaft zusammenleben. Da geht es um die Frage: Um was geht es im Leben eigentlich? Geht es wirklich nur um Geld, Konsum, Spaß und Unterhaltung oder geht es darum, wie leben wir zusammen? Letztlich ist es eine große politische Frage.