Es gibt nicht EINEN Grund

Eigentlich hatte ich vor – nach einem nächtlichen Erinnerungsflash – darüber zu schreiben, was für ein unfassbar grandioses Gefühl es für mich als Kind war, Bücher zu lesen und wie Omas Reader‘s Digest Abo das Netflix meiner Kindheit war. Eigentlich. Nur wehen die Gedanken gerade nicht locker flockig durch meine Erinnerung sondern strömen direkt auf ein Bild zu. Oma in ihrem Stuhl, die Beine auf einem Schemel hochgelagert häkelt sie wieder einmal einer bombastischen Decke. Im Fernsehen Nachrichten. Robert Hochner berichtet über den Jugoslawien Krieg. Meine Oma schüttelt mit gesenkten Augen den Kopf und murmelt „So furchtbar. So furchtbar. Krieg.“ Es war keine Floskel, es war ein Seufzer der all ihre Erinnerungen an ihre Jugend und Zeit als junge Frau in sich trug. Sah sie Bilder eines zerschossenen Hauses, spürte sie ganz wahrhaftig die Angst der dort lebenden Menschen am eigenen Körper. Politische Querelen, Machtansprüche, Grund- und Bodenansprüche, nichts war von Bedeutung außer die Angst jener Menschen, die gerade ihr Leben in Trümmern vor sich liegen sahen. „Es gibt keinen Grund auf der Welt, der so etwas rechtfertigt. Keinen“. Ich finde sie hatte recht, ganz unpolitisch muss ich einfach nicken und ihr zustimmen. Menschliche Existenzen zu opfern für vermeintliche, historische Herrschaftsansprüche oder aus religiöser Motivation heraus ist etwas, bei dem ich mich frage, ob sich unsere Gehirn wirklich weiter entwickelt hat. Es mag unglaublich naiv sein, aber es ist für mich noch immer eine der absurdesten und schmerzlichsten Ausformungen der Menschlichen Natur. Da sitzt jemand hinter seinem (vergoldetem) Schreibtisch und sagt: „So, jetzt schießen wir mal auf ein paar Leute, weil die stehen nicht hinter uns/oder: weil die beten einen anderen Gott an/oder: weil die haben Land das wir gern hätten.“ Warum geht es uns immer wieder um Größe? Große Macht, große Religionsgemeinschaft, großes Land…und ich versuche jetzt absichtlich keinen naheliegenden Vergleich anzustellen. Wer darunter leidet, sind nie jene, deren Machtbedürfnis befriedigt werden will. Es sind Menschen wie wir. Es sind die Kinder die vor einer Woche noch eine gute Nacht Geschichte am kuscheligen Bett vorgelesen bekamen, es ist Herr Weber, der jeden Morgen um 6 Uhr mit seinem Hund Gassi geht, es ist Frau Tschabrun, die ihren Kaffee nie ohne Zucker trinkt, es ist Familie Vögel die gerne jeden Sonntag auf die Hohe Kugel wandert. Anderorts heißen sie halt Melnik, Bondarenko oder Koval, die jetzt in Luftschutzbunkern sitzen.
Heidi Salmhofer ist freiberufliche Theatermacherin und Journalistin. Sie lebt als alleinerziehende Mutter mit ihren Töchtern in Hohenems.