Flüchtlingsfamilie in Bregenz schöpft neuen Lebensmut
Zehn Monate nach ihrer Flucht hat die Vier-Generationen-familie etwas Normalität zurückgewonnen.

Sie mussten alles zurücklassen: ihre Heimat, ihre Wohnungen, ihr Hab und Gut, ihre Verwandten und Freunde. Als den Bragins im März vor einem Jahr die Flucht aus der der damals schwer umkämpften Stadt Mariupol gelang, blickten sie in eine ungewisse Zukunft. „Es ging uns gut, aber Putin hat uns alles genommen. Es fühlt sich an, als ob das Leben zu Ende gegangen wäre“, sagte Vadim Bragin Anfang April 2022 in einem Gespräch mit der NEUE am Sonntag.

Dankbar
Die Familie, die aus vier Generationen besteht, war damals im Ankunftszentrum Nenzing untergebracht und stand noch sichtlich unter dem Eindruck der entsetzlichen Ereignisse. Vor wenigen Tagen besuchte diese Zeitung die Flüchtlingsfamilie erneut. Diesmal allerdings in Bregenz, wo die Bragins nun schon seit längerem wohnen. Schon beim Betreten des Hauses in der Kennelbacherstraße ist eine ruhige, entspannte Atmosphäre spürbar. Der erste Eindruck sollte nicht täuschen.
Die Familie, die die Schrecken des Kriegs hautnah miterlebte, mehrere Tage und Nächte im Keller ausharren musste und schließlich im Bombenhagel aus ihrer Heimatstadt floh, hat ein neues Zuhause in Sicherheit gefunden und neuen Lebensmut geschöpft. „Wir sind sehr dankbar dafür, dass Österreich uns das ermöglicht hat“, sagt der 61-jährige Familienvater. Auch den Nachbarn spricht die Familie Dank aus. „Sie sind alle sehr hilfsbereit und haben uns herzlich willkommen geheißen.“

Arbeit gefunden
Im Leben der ukrainischen Flüchtlingsfamilie hat sich in den vergangenen neun Monaten einiges getan. Sie haben einen Deutschkurs besucht und Arbeit gefunden. Vadim und seine Frau Larisa sowie Tochter Alena arbeiten als Küchenhilfen im Rankweiler Hotel und Veranstaltungszentrum Firmament. „Wir wurden dort sehr warm empfangen“, erzählt Alena Lyashenko. Ihre Kinder Mylana (8) und Marc (5) gehen in die Volksschule bzw. in den Kindergarten. „Meine Tochter hat schon viele Freunde. Sie knüpft Armbänder, die sie dann verschenkt. Auch ihrem Lehrer hat sie eines gegeben. Sie mag ihren Lehrer sehr“, erzählt die 36-Jährige.

Vera, Larisas Mutter, von den anderen liebevoll Babuschka genannt (russisch für Oma), litt anfänglich sehr unter der Entwurzelung. Mittlerweile hat sich die ehemalige Melkerin akklimatisiert. „Dass ich in meinem Alter noch einmal woanders leben werde, hätte ich nicht gedacht.“ Tagsüber, sagt sie, sei sie oft allein. „Deshalb bin ich froh, dass ein Fernseher im Haus ist.“ Vera, mit ihren 84 Jahren erstaunlich rüstig, kümmert sich aber auch um ihre Enkelkinder. „Wenn sie von der Schule kommen, bereite ich ihnen das Essen zu.“

Seit Herbst ist auch Alenas Ehemann Vladimir in Vorarlberg. Ihm gelang die Flucht erst später. Der 37-Jährige ist Diplomingenieur und spielte einst in einer ukrainischen Profi-Volleyballmannschaft. Auch er lernt gerade Deutsch und hofft auf eine Anstellung in einem Architektur- oder Ingenieurbüro. Sportlichen Anschluss hat Vladimir bereits beim Volleyballclub Wolfurt gefunden.

Ruinenstadt Mariupol
Wann und ob sie jemals wieder in ihre Heimat zurückkehren werden, weiß die Familie nicht. „Wir schauen jetzt einmal, wie sich die Dinge entwickeln. Wir hoffen natürlich, dass Mariupol irgendwann wieder zur Ukraine gehört und wir wieder nach Hause können, aber für unsere Kinder sehen wir dort eigentlich keine Zukunft mehr“, sagt Alena.
Wohl nur wenige Städte sind seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine so stark zerstört worden wie das am Asowschen Meer gelegene Mariupol. Die einst blühende Hafenstadt liegt größtenteils in Trümmern. Seit 20. Mai ist sie vollständig unter russischer Kontrolle. Der Wiederaufbau der Stadt soll laut Schätzungen sieben bis zehn Jahre dauern und über 14 Milliarden US-Dollar kosten.

Häuser und Wohnungen zerstört
Die Häuser und Wohnungen, in denen die Familienmitglieder lebten, wurden ebenfalls zerstört. Auf das Haus von Vadim und Larisa, das etwas außerhalb von Mariupol steht, fiel eine Bombe. Alena und ihre Schwester Yuliia (33) lebten mit ihren Kindern in zwei benachbarten Wohnblocks in der Stadt. Drei Tage nach ihrer Flucht wurden die Gebäude bombardiert. Yuliia zeigt ein Handyvideo, das eine Bekannte in ihrer Wohnung aufgenommen hat. Die Fenster sind geborsten, die Räumlichkeiten zerstört und ausgeplündert.

Erinnerungen
Während der Belagerung der Stadt starben laut ukrainischen Angaben mindestens 20.000 Zivilisten, später war sogar von fast 90.000 Toten die Rede. Wie viele Opfer es genau gab, ist nicht bekannt. Auch die Bragins fürchteten damals um ihr Leben. „Die Kellerwände bebten von Tag zu Tag stärker“, erzählt Vadim. Tochter Alena erinnert sich, wie eines ihrer Kinder vor dem Einschlafen zu ihr sagte, dass es sich einfach vorstelle, es sei Silvester. Nach Ansicht der Eltern haben die drei Kinder das Erlebte den Umständen entsprechend gut verarbeitet. „Sie wissen natürlich, warum sie hier sind. Sie haben den Kriegslärm mitbekommen, aber nichts gesehen. Wenn sie sich an was erinnern, dann an die Spielsachen, die wir nicht mitnehmen konnten“, schildert Alena.

Auch die Bragins haben Freunde und Verwandte im Krieg verloren. Larisas Schwester lebt immer noch in der zerstörten Stadt. Die beiden schreiben sich und telefonieren regelmäßig. „Aber wir müssen das alles sehr neutral halten, denn die Handys werden überwacht und kontrolliert“, erzählt die 60-Jährige.
Dass der Krieg so lange andauert, hätte sich Vadim nicht gedacht. Er macht sich große Sorgen um sein Land. Die Entscheidung, die Heimat zu verlassen, sei aber die richtige gewesen. „Wegen der Kinder.“
Auf Wohnungssuche
Die Flüchtlingsfamilie hat sich mittlerweile gut in Vorarlberg eingelebt. Nun steht sie vor einem neuen Abschnitt in ihrem Leben. Die beiden erwachsenen Töchter und ihre Eltern suchen jetzt jeweils nach einer eigenen Wohnung im Raum Bregenz, denn der Platz im Haus ist für neun Personen relativ beengt.
Zur wiedergewonnenen Normalität gehören eben auch Rückzugsmöglichkeiten und Privatsphäre.
Vermieter mit geeigneten Wohnräumlichkeiten können sich gerne an die NEUE Vorarlberger Tageszeitung wenden. Email: neue-redaktion@neue.at oder Tel: 05572/501-311