Kairo schickt Panzer an die Grenze

Ägypten droht Israel mit der Aufkündigung des Friedensvertrages von 1979
Angesichts der Ankündigungen Israels, im Kampf gegen die Hamas nun die palästinensische Flüchtlingsstadt Rafah an der Grenze zu Ägypten anzugreifen, sorgt jetzt für umstrittene Reaktionen auf ägyptischer Seite: Kairo schickt zusätzliche Panzer und Truppen an die Grenze und warnt Israel vor einer Großoffensive auf die Stadt Rafah. „Jede Ausweitung militärischer Operationen hätte schwere Konsequenzen“, sagte Außenminister Sameh Shoukry am Wochenende. Die ägyptische Regierung befürchtet eine Flüchtlingswelle aus dem Gaza-Streifen auf die ägyptische Sinai-Halbinsel. Die deutsche Außenministerin warnte vor einer „humanitären Katastrophe mit Ansage“, sollte Israel Rafah angreifen. Die Not in Rafah sei „schon jetzt unfassbar“, so die Grünenpolitikerin- 1,3 Millionen Menschen hätten dort auf engsten Raum Schutz vor den Kämpfen gesucht und könnten sich „nicht in Luft auflösen“. Auch Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg warnte Israel vor Angriffen auf Rafah. Israel sieht Rafah als Rückzugsort der Führungskader der Hamas, die den Terror vom 7. Oktober in Israel verübte.
Als südlicher Nachbar des Gaza-Streifens spielt Ägypten eine Schlüsselrolle bei der Versorgung der Zivilisten in dem abgeriegelten Palästinenser-Gebiet, wo sich zwei Millionen Menschen drängen. Kairo liefert nach Regierungsangaben 80 Prozent aller Hilfsgüter, die über den Grenzübergang von Rafah nach Gaza rollen. Viele internationale Politiker, darunter UN-Generalsekretär Antonio Guterres und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, haben seit Kriegsausbruch am 7. Oktober den Übergang besucht. In den kommenden Tagen will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan an die Grenze reisen.
Israel hatte die Bewohner von Gaza aufgerufen, sich bei Rafah im Süden des Gebietsstreifens in Sicherheit zu bringen. Nun greift die israelische Armee auch dort an. Das bedeute Alarm für Ägypten, sagt der Nahost-Experte Joshua Landis von der Universität Oklahoma. „Ägypten will keine zwei Millionen bitterarme Palästinenser aufnehmen“, sagte Landis unserer Zeitung. Schließlich stehe Ägypten, das mit 110 Millionen Menschen bevölkerungsreichste Land der arabischen Welt, schon jetzt am Rande des Staatsbankrotts.
Präsident Andel Fattah el-Sisi fürchte auch um die innere Sicherheit, sagt Landis. Ägypten hat zwar Kontakte zur Hamas und nutzt diese in den Gesprächen über eine neue Waffenruhe. Doch ideologisch ist Sisi ein Feind der radikalen Palästinensergruppe, die zur Bewegung der Muslim-Bruderschaft gehört. „Sisi hat die Muslim-Bruderschaft in Ägypten zerstört“, sagte Landis. „Das letzte, was er will, sind tausende neue radikalisierte Islamisten in seinem Land.“
Omar Rahman von der Denkfabrik Middle East Council in Katar weist darauf hin, dass radikale Islamisten auf der Sinai-Halbinsel schon von dem Ausbruch des Gaza-Krieges ein Problem für Sisis Regime waren. „Millionen traumatisierter und wütender Flüchtlinge“ auf der Sinai-Halbinsel würden die Region weiter destabilisieren, sagte Rahman unserer Zeitung.
Auch aus außenpolitischen Gründen stemmt sich Ägypten gegen eine Massenflucht aus Gaza. Rechtsradikale israelische Politiker fordern die permanente Vertreibung der Palästinenser aus dem Gaza-Streifen. Kairo wolle nicht zum unfreiwilligen Helfer bei dieser „ethnischen Säuberung“ werden, sagt Landis.
Selbst wenn die Unterbringung palästinensischer Flüchtlinge auf ägyptischen Boden als zeitlich begrenzte Nothilfe definiert werden sollte, sei sie für Ägypten unannehmbar, sagt Nahost-Experte Rahman aus Katar. Die Erfahrung zeige, „dass Israel nicht die Absicht hat, die Palästinenser in ihre Heimat in Gaza zurückkehren zu lassen, wenn die Kämpfe vorüber sind“. Mit Blick auf die Flucht vieler Palästinenser aus dem heutigen israelischen Staatsgebiet bei der Gründung des jüdischen Staates fügte Rahman hinzu: „1948 und die Folgen wiederholen sich.“
Verhindern will Sisi den Massenansturm aus dem Gaza-Streifen mit militärischen und diplomatischen Mitteln. Die ägyptische Armee schickte jetzt rund 40 Panzer und gepanzerte Mannschaftswagen an die Grenze zu Gaza, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete. Nach Kriegsausbruch im Oktober hatte Ägypten bereits einen Beton-Grenzwall errichtet; die Mauer reicht sechs Meter tief ins Erdreich, um es der Hamas zu erschweren, die Grenze zu untertunneln.
Zudem nutzen ägyptische Regierungsvertreter nach Medienberichten jede Gelegenheit, über westliche Gesprächspartner eine Warnung an Israel zu schicken: Eine israelische Großoffensive in Rafah wäre das Ende des ägyptisch-israelischen Friedensvertrages von 1979, des ersten Vertrages zwischen Israel und einem arabischen Staat. Zuletzt gab die ägyptische Regierung diese Botschaft vorige Woche dem amerikanischen Außenminister Antony Blinken mit auf den Weg nach Israel, wie die „New York Times“ meldete. In direkten Kontakten mit israelischen Militärs forderten ägyptische Offiziere, Israel solle seine Militärschläge auf Hamas-Ziele in Rafah begrenzen.
Vor allem hofft die ägyptische Regierung auf die angestrebte neue Feuerpause. Außenminister Shoukry sagte, Kairo bemühe sich, die Positionen von Israel und der Hamas auf einen Nenner zu bringen. Doch die Verhandlungen seien „komplex“.